Ist eine Genehmigung erst einmal erteilt, schaut die Verwaltung nicht mehr genau hin – erst wenn es Beschwerden gibt.
Der Vorwurf von Lesern und Vertretern von Behindertenorganisationen wiegt schwer: In der Landeshauptstadt ist es mit der Einhaltung der Unesco-Menschenrechtskonvention zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen nicht weit her. Ihr Argument: In Schwerin kann jeder Bauherr die korrekteste Baugenehmigung erhalten, die Umsetzung werde nicht kontrolliert. Die Folge: Die in der Landesbauordnung festgelegte Vorschrift, bei Immobilien-Neubauten barrierefreie Wohnungen zu schaffen, werde ausgehebelt.
Ganz so sei es nicht, verdeutlicht Anja Scheidung vom städtischen Fachdienst für Bauordnung im SVZ-Gespräch. Richtig sei, dass der Gesetzgeber eine Entlastung der bundesdeutschen Verwaltung vorgesehen habe und eben deshalb bei Wohnimmobilien, die nach einem so genannten vereinfachten Verfahren geprüft würden, keine Endabnahme stattfinden würde. Sprich: Ob der Bauherr auch so gebaut hat, wie es die Baugenehmigung vorsieht, wird von der Verwaltung nicht überprüft. Klingt komisch, ist aber so. Das ist geltendes Gesetz. „Wir hätten auch gar nicht das Personal für eine Bauabnahme jedes Neubauvorhabens“, sagt Baudezernent Bernd Nottebaum. „Das wäre nicht leistbar.“
Im Klartext bedeutet das: Wenn ein Bauherr sich nicht an die Vorschriften der Landesbauordnung hält, die besagt, dass bei einem Wohnungsneubau von mehr als zwei Wohnungen auf einer Etage die Wohnungen barrierefrei erreichbar sein müssen, dann muss er höchstens klagende Käufer der Wohnungen oder Nachbarn und Behindertenverbände fürchten. Von sich aus wird die Verwaltung nicht aktiv.
Der verärgerte Benachteiligte hat also die Auswahl – Menschenrechtskonvention hin oder her: Entweder er erklagt in einem Zivilrechtsprozess die Einhaltung der Landesbauordnung und damit die Errichtung der barrierefreien Wohnungen, oder er beschwert sich bei der Stadt. Denn die ist – unabhängig von der nicht verordneten eigenständigen Prüfung – für die Einhaltung der Bauordnung zuständig. Sie würde dann tätig werden müssen und den Bauherrn auf seine Pflicht hinweisen.
In vielen Punkten erweisen sich Klagen als unnötig. Im Schloss-Quartier beispielsweise erscheinen Wohnungen als kaum barrierefrei, weil von der Straße her eine Treppe ins Haus führt. Doch die Zuwegung für Menschen mit einem Handicap ist dort durch die Tiefgarage und einen Fahrstuhl gewährleistet, wie Stadtentwickler Dr. Günter Reinkober erklärt. Das sehen Außenstehende eben nicht. Auch andere Investitionen wie der Q1-Tower, wo auf dem Papier der Planung beispielsweise von einem Tritt zum Ausgang auf die Terrasse die Rede ist, könnten beim Bau noch barrierefrei werden, ist für die Bauverwaltung sicher. „Barrierefreiheit ist eine Zukunftsinvestition“, sagt Baudezernent Nottebaum. „Es wäre nicht verständlich, wenn Investoren freiwillig darauf verzichten – selbst wenn sie höhere Kosten bedeutet.“
Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Von Juni 2016 bis März 2017 musste die Stadt nach Bürgerhinweisen 188 ordnungsbehördliche Verfahren einleiten. Vorausgegangen waren 950 Beschwerden von Schwerinern. In 35 Fällen hatten Bauherren gegen Baugenehmigungen verstoßen, in 17 Fällen die Nutzung von sich aus geändert. 19-mal hatten Investoren von sich aus Auflagen der Bebauungsplanfestsetzungen geändert. 32 Bußgelder wurden von der Stadt insgesamt verhängt. Die Statistik zeigt also, dass es nur ein kleiner Teil ist, bei dem Beschwerden an die städtische Behörde auch wirklich begründet waren.
Kommentar von Timo Weber: Paradoxe Vorschriften |
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Was für ein Unfug: Der Bauherr muss seinen Bau in unzähligen Details genehmigen lassen und sich vom Natur- über Denkmalschutz bis hin zu Bauvorschriften mit Ämtern plagen. Hat er einmal die Genehmigung in der Tasche, kann er – gelinde gesagt – tun und lassen, was er will. Die Bauaufsicht wird nur aktiv, wenn es Beschwerden gibt. Das ist ziemlich paradox und führt zu solchen Tatsachen, dass beispielsweise irgendwann beschlossen wurde, in Neumühle Carports zu begrünen, sich aber niemand um die Umsetzung kümmert. Nun mag man trefflich über den Sinn des Rasens auf dem Carport streiten: Im Fall der Barrierefreiheit gibt es kein Ausweichen. Vorschriften, die hohe Hürden legen, ehe der erste Bagger anrollen darf, und gleichzeitig die Kontrolle der Einhaltung der Hürden an diejenigen verteilen, die bauen, sind unsinnig. Sie führen nur dazu, dass Privatleute aus eigener Tasche das einklagen müssen, was städtische Behörden nicht durchsetzen. So delegieren bundesweit Verwaltungen die Verantwortung für die Einhaltung geltenden Rechts an denjenigen, der den Missstand entdeckt. Und das kann und darf nicht gewollt sein. |