Bin ich pornosüchtig? Was für ein Bild vom Sex bekommen Teenager im Internet vermittelt? Wie viel Zeit auf Porno-Seiten ist noch okay? Mit Fragen wie diesen quälen sich viele mehr als nötig, meint die Porno-Forscherin Madita Oeming. Ein Interview.
Porno ist Alltag. Man sollte mit dem Thema angstfrei umgehen. Das sagt die Kulturwissenschaftlerin Madita Oeming – und nennt Zahlen: Im Ranking der meistbesuchten Internetseiten liegt das Sexportal Pornhub in Deutschland weit vor Netflix. 96 Prozent der Männer zwischen 18 und 75 Jahren haben hierzulande schon Pornos gesehen; bei den Frauen sind es 79 Prozent. Der Erstkontakt liegt durchschnittlich bei 14 Jahren: und drei von fünf Teenagern zwischen 14 und 17 Jahren suchen online gezielt nach Pornos.
Wer ist Madita Oeming? Zum Porträt der Porno-Forscherin
In einem Wort: Beim Porno kann also so gut wie jeder mitreden. Es tut nur keiner. Das Thema ist schambesetzt und für viele mit Ängsten verbunden. Madita Oeming sieht die Ursache dafür in einer medialen Debatte, die einseitig über mögliche Schäden diskutiert. Dabei sind Pornos, sagt sie, sehr viel ambivalenter, als man meinen könnte. Viele Sorgen von Pornonutzern hält sie für unbegründet. Im Interview erklärt sie, warum:

These 1: Pornos können der sexuellen Gesundheit dienen
Frau Oeming, Sie kritisieren, dass Pornografie nur mit Blick auf Schäden und Gefahren diskutiert und erforscht wird – nicht mit Blick auf Positivwirkungen. An welche denken Sie da?
Erstmal ganz simpel den Lustgewinn. Und die Anleitung zum Solosex. Das ist die sicherste Form der Sexualität. Beim Masturbieren wird niemand schwanger, fängt sich Krankheiten ein oder erlebt Grenzüberschreitungen. Wer masturbiert, tut etwas für die eigene sexuelle Gesundheit. Und auch wenn Pornos Unterhaltung sind und kein Bildungsprogramm, können wir aus ihnen lernen: Wie sehen Genitalien aus? Wie kann man sich anfassen? Wie funktioniert queerer Sex? Sie können Inspirationsquelle sein, auch für Paarsexualität. Ebenso einen Gesprächseinstieg über sexuelle Wünsche ermöglichen. In Beziehungen können sie ein Ventil sein. Bedürfnisse, die nur eine Partnerperson hat, können einfach am Bildschirm ausgelebt werden. Und natürlich können Pornos uns helfen, uns selbst besser kennenzulernen.
Madita Oeming, Jahrgang 1986, forscht als Kulturwissenschaftlerin über Pornografie und vertritt als „Lustaktivistin“ einen sexpositiven Feminismus. Einen Überblick über ihr Thema gibt Oeming im Sachbuch „Porno. Eine unverschämte Analyse“, das gerade im Rowohlt Verlag erschienen ist. (254 Seiten, 20 Euro.)
These 2: Pornos können identitätsstiftend sein
Wie denn?
Wir können mit Pornos unsere Bedürfnisse erkunden. Gerade Frauen lernen gesellschaftlich nicht, sich als sexuelle Subjekte zu erleben. Viele machen ihre ersten sexuellen Erfahrungen mit anderen anstatt mit sich selbst. Pornos können ein Medium sein, Fantasien auszuprobieren und uns selbst zu finden. Vor allem für queere Menschen ist das wichtig und sogar identitätsstiftend. Trans Personen oder behinderte Menschen sehen sich oft im Porno das erste Mal als sexuelle Wesen. Vielleicht nicht im Mainstream, aber es gibt wirklich für alle einen Porno, der Körper wie ihre als begehrenswert inszeniert. Das ist wertvoll.
These 3: Der Porno-Konsum von Frauen wird falsch eingeschätzt
Gibt es eine Grundannahme über weiblichen Pornokonsum, die grundfalsch ist?
Etliche! Vor allem, dass dieser eine Ausnahmeerscheinung sei. Dabei schauen immer mehr Frauen Pornos. Laut Pornhub ist ein Drittel des Publikums dort weiblich. Dann gibt es viele Fehlannahmen darüber, was Frauen sehen wollen. Während das Klischee den Frauen Zärtlichkeit und Romantik zuordnet, suchen Frauen auf Pornoseiten auffällig oft nach hartem Sex. Sogenannte „Frauenpornos“ legen Wert auf eine geschmackvolle Ästhetik und ein Mehr an Geschichte – und auch das ist nichts als eine sexistische Zuschreibung. Die sexuellen Fantasien von Männern und Frauen unterscheiden sich nicht grundlegend. Die individuellen Unterschiede sind viel größer als Geschlechterunterschiede.
These 4: Sogenannte „Pornosucht“ ist medial überpräsent
Können Pornos wirklich süchtig machen?
Natürlich können Menschen eine ungesunde Beziehung zu Pornos entwickeln, genau wie zum Shoppen, zum Essen, zur Arbeit, zum Sport. Das trifft aber nur auf einen sehr kleinen Personenkreis zu. Die meisten Menschen haben einen gesunden Umgang mit Pornos. Gemessen an der Zahl der Betroffenen ist das Wort „Pornosucht“ medial deutlich überpräsent. Zumal es sich dabei um keine anerkannte Diagnose handelt. Wir sprechen im Moment von einer Impulskontrollstörung. Entscheidend ist dabei nicht die Menge des Pornokonsums, sondern der Kontrollverlust. Wer einen Leidensdruck spürt, aber dennoch nicht aufhören kann, hat womöglich eine Pornonutzungsstörung.
These 5: Jugendliche brauchen Pornokompetenz
Muss ich mir Sorgen um den Pornokonsum meiner Kinder machen?
Angst ist nie eine gute Herangehensweise an Pornografie. Es ist Realität, dass Jugendliche früh mit Pornos in Kontakt kommen. Verbote helfen da nichts. Wir brauchen stattdessen mehr Bildung! Pornokompetente Kinder sind am sichersten. Viele sagen, dass ihr erster Kontakt mit Pornografie unfreiwillig war und sie überfordert hat. Hier hilft das Gespräch, in der Familie und auch in der Schule. Wichtig ist aber auch: Die Datenlage zu jugendlicher Pornonutzung und den Auswirkungen auf ihre Sexualität ist viel undramatischer als die öffentliche Unterhaltung darüber. Trotzdem sollten sich Eltern wie Lehrkräfte damit befassen und Gesprächsangebote machen. Vorsicht: Wer dabei Schuldgefühle vermittelt, macht den Kanal zu.
These 6: Es hilft, für Pornos zu bezahlen
Die meisten Leute nutzen Pornos heute auf Gratis-Seiten. Muss man befürchten, dort an illegale Bilder zu geraten, an Aufnahmen, die nicht einvernehmlich entstanden sind?
Das Risiko wird von Anti-Porno-Stimmen tendenziell übertrieben. Immer wieder gibt es Schlagzeilen, wonach die sogenannten Tube-Portale – also Seiten wie Pornhub, YouPorn oder XHamster – quasi ausschließlich aus illegalen Inhalten bestehen würden. Das stimmt so nicht. Trotzdem kann ich die Sorge verstehen. Pornos illustrieren alle möglichen Fantasien. Und natürlich muss man dann wissen: Sehe ich gerade inszenierten Voyeurismus oder wusste dort jemand wirklich nicht, dass er gefilmt wird? Für diese Sorge gibt es aber eine gute Lösung: für Pornos bezahlen.
Erklären Sie das mal genauer.
Zum einen gucken Sie dann keine Raubkopien. Zum anderen wissen Sie auf Bezahlseiten, wer die Inhalte zur Verfügung gestellt hat. Auf den Tube-Portalen erfahren Sie oft nicht mal die Namen der Performenden, denen Sie gerade beim Sex zusehen. Geschweige denn, wer hinter der Kamera war. Auf Bezahlseiten gibt es mehr Transparenz. Das ist zwar keine Garantie, aber vermindert das Risiko doch drastisch, Inhalte anzuschauen, die ohne das Einverständnis aller Beteiligten gefilmt oder veröffentlicht wurden. Außerdem profitieren so jene Menschen von unserem Pornokonsum, die ihn auch möglich machen. Sexarbeit ist Arbeit und gehört fair bezahlt.
These 7: Ein schlechtes Porno-Gewissen ist meist irrational
Ein Begriff, den ich aus Ihrem Buch gelernt habe, ist die „Post-Nut-Clarity“. Gemeint ist damit ein schlechtes Gewissen, das einen nach dem Pornogucken erwischen kann. Wie geht man damit um?
Mein Tipp ist, erstmal einen Schritt zurückzumachen und in den Reflexionsmodus zu gehen. Bewerten Sie das schlechte Gewissen nicht, sondern fragen Sie nach dem Warum. Liegt es an den Inhalten, die ich gesehen habe? Liegt es an dem Gefühl, dass man gar nicht Masturbieren sollte? Liegt es an der Heimlichkeit? Habe ich vielleicht das Gefühl, meinen Partner zu hintergehen? Dann sollte ich das Gespräch suchen. In den allermeisten Fällen ist das ein irrationales Gefühl. Oft werden wir feststellen, dass es an gesellschaftlichen Normvorstellungen liegt – die wir überwinden können. Wir sollten uns unsere Lust erlauben und uns nicht selbst für unsere Fantasien bewerten.
These 8: Deutschlands Porno-Politik ist fehlgeleitet
In Ihrem Buch habe ich mehrfach das Wort „Staatsversagen“ gelesen. Haben Sie eine ganz konkrete Forderung – an den Gesundheits- oder Justizminister? Die Bildungs- oder Familienministerin? An die Staatsministerin für Kultur?
Meine permanente Forderung lautet: Wir brauchen Pornokompetenz. Wir brauchen eine Bildungsrevolution, die sexuelle Bildung ernst nimmt. Wir brauchen einen Jugendschutz, der über Wissen statt Verbote funktioniert. Damit richte ich mich vor allem an die Landesmedienanstalten und die Kommission für Jugendmedienschutz (KJM), insbesondere Tobias Schmid, den Direktor der Landesanstalt für Medien in NRW. Die aktuelle Vorgehensweise, die Netzsperre, die Altersverifikation, die Anzeigen an Twitter-Accounts – das ist fehlgeleitete Politik! Die Jugend wird so nicht effektiv geschützt, aber wir alle verlieren ein Stück sexuelle Freiheit, Datensicherheit und Netzneutralität. Diese Rechnung geht nicht auf.