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Neuer Roman „Dunkelnacht“ Kirsten Boie: „Es gibt keine Tabu-Themen für Kinder- und Jugendbücher“

Von Yannik Jessen | 29.05.2023, 13:13 Uhr

Einst wurde Kirsten Boie als deutsche Erbin von Astrid Lindgren bezeichnet. Im Interview spricht die Hamburger Jugend- und Kinderbuchautorin über Geschlechterrollen, die AfD und ihre Kindheit in der Nachkriegszeit.

Kirsten Boie ist eine der bekanntesten Kinder- und Jugendbuchautorinnen in Deutschland. Für ihren Roman „Dunkelnacht“, eine Geschichte über die Gräueltaten in den Tagen nach dem Zweiten Weltkrieg, erhielt sie kürzlich den Jugendbuchliteraturpreis.

Im Gespräch mit unserer Redaktion erzählt Boie wieso sie regelmäßig mit Geschlechterrollen bricht, weshalb die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg heute wichtiger ist denn je und welches persönliche Detail aus ihrem Elternhaus sich in ihrem Buch „Heul doch nicht, du lebst ja noch“ versteckt.

Frau Boie, wie entstehen bei Ihnen neue Buchideen?

Ganz unterschiedlich. Bei manchen lässt sich das eindeutig sagen. Das sind Dinge, die vielleicht mit eigenen Erlebnissen zu tun haben oder früher mit Erlebnissen von Freunden meiner Kinder. Manchmal geht es mir auch um Themen. Ich habe zum Beispiel ein Buch über geflüchtete Kinder geschrieben. Als 2011 in Syrien der Krieg losging, war mir klar, dass viele Kinder in der Schule geflüchtete Kinder kennenlernen werden und da fand ich es wichtig, ihnen zu erzählen, warum sie hier sind und was sie hinter sich haben. Manchmal gibt es Themen, die mir abstrakt wichtig sind, zum Beispiel Arm und Reich. Dann habe ich ein Thema, aber noch keine Geschichte.

Und dann gibt es ab und zu Ideen, die sind ganz stark. Da weiß ich einfach, dieses Buch möchte jetzt geschrieben werden. Was natürlich quatsch ist, aber so fühlt es sich an. Das kann ich dann nicht begründen. Es gibt ein Buch von mir, das heißt ,Seeräubermoses‘ und da denken vor allem die Süddeutschen immer, das hat damit zu tun, dass ich in Hamburg lebe. Hat es aber wahrscheinlich gar nicht, die Idee ist mir einfach an der roten Ampel im Stau gekommen.

Hält das Schreiben von Jugendbüchern einen jung? Gerade in Bezug auf Sprache, die sich unter Jugendlichen von Generation zu Generation unterscheidet.

Ich denke, da muss man unendlich vorsichtig sein. Das kann wahnsinnig peinlich sein, wenn man da daneben greift. In meiner Reihe ,Sommerby‘ ist die Protagonistin 13 oder 14 Jahre alt und ich hab mir die Frage gestellt, wie ich die sprechen lasse. Es darf nicht klingen, als würde sie in den 50er-Jahren leben, aber es sollte auch nicht zu eindeutig 2020 sein, denn das veraltet genauso schnell.

Aber ob das Schreiben von Jugendbüchern jung hält? Ich glaube nicht. Ich finde es zwar immer wieder erstaunlich, wie alt ich bin und es fühlt sich auch überhaupt nicht so an, aber ich weiß es und das ist auch okay so. Schön ist aber, dass der Kontakt zu Jugendlichen über das Schreiben bestehen bleibt. Sei es über Lesungen, Diskussionen oder Mailaustausch. Und das ist das, was ich wirklich schön finde.

Wirtschaft bestärkt Geschlechterrollen

Ihre Bücher brechen oft mit Geschlechterklischees. Denken Erwachsene heute noch zu sehr in Klischees und drücken damit Kinder in bestimmte Rollen? Wie können wir davon wegkommen?

Ich glaube, wir sind alle bis zu einem gewissen Grad immer in dem Gefangen, was wir während unserer Sozialisierung internalisiert haben. Das hängt aber gar nicht so sehr von Eltern oder Lehrern ab. Die Wirtschaft arbeitet massiv damit, natürlich aus wirtschaftlichem Interesse. Kinder lernen so unglaublich schnell und wenn ihnen einmal beigebracht wurde, dass Pink für Mädchen ist, dann ist Pink erstmal eine Mädchenfarbe.

Aber ich erlebe mit Erstaunen und Freude bei Lesungen, dass immer mehr Jungs lange Haare haben und zwar richtig lange Haare. Wenn ich dann Kinder aufrufen möchte, habe ich früher immer gesagt “Das Mädchen mit dem grünen T-Shirt”. Das traue ich mich inzwischen häufig nicht mehr, es könnte ja auch ein Junge sein. Es gibt da eine Entwicklung und das ist toll, weil es signalisiert: Alle dürfen alles.

In den USA werden immer mehr LGBTQ-feindliche Gesetze verabschiedet, in Deutschland vertritt die AfD viele rechtspopulistische Positionen. Wie begegnen Sie als Autorin solchen Positionen?

Ich denke der Satz “Alle dürfen alles”, der gilt nicht nur für die Frage der Haarlänge, sondern auch für all diese Fragen. Ich denke, wir müssen Menschen nur da einschränken, wo das, was sie tun, anderen Schaden kann. Ich muss an roten Ampeln anhalten, aber welche Klamotten ich trage, ist mir freigestellt, ebenso, welchem Geschlecht ich mich zugehörig fühle.

Die Diskussion wird sich hoffentlich irgendwann wieder beruhigen. Es ist jetzt schon so, dass Kinder und Jugendliche anders damit umgehen. Gleichgeschlechtliche Partnerschaften sind für heutige Jugendliche gar kein großes Thema mehr. Das hängt immer auch vom Umfeld und Bildungsgrad ab, aber im Großen und Ganzen ist das kein Problem. Deshalb sehe ich die Chancen der AfD auch nicht so gut. Ich bin sehr dankbar, dass wir in Deutschland leben und nicht in den USA.

Aufklärung über den Nationalsozialismus wieder wichtiger

Haben Sie Sorge, wir könnten auch in Deutschland anfangen, Bücher, die LGBTQ-Themen behandeln, zu verbieten? Ähnlich wie es in den USA bereits passiert...

Nein. So wie Deutschland im Augenblick aussieht, nicht. Das wäre von den Gesetzen her gar nicht möglich und würde vermutlich auch keine Zustimmung in der Bevölkerung finden. Andererseits bin ich natürlich in Sorge, dass der Rechtspopulismus bei uns an Boden gewinnt. Je mehr Menschen sich gesellschaftlich ausgegrenzt fühlen, desto mehr werden auch an die Ränder abwandern.

Wir haben das bei der Wahl in Bremen gesehen. Und fast hätte es in Brandenburg einen Landrat der AfD gegeben, in Thüringen führt die AfD in den Umfragen. Wenn diese Partei politisch an die Macht kommt, dann kann niemand garantieren, was passieren wird. Aber ich glaube, so schnell wird das nicht passieren und wenn, dann wird es hoffentlich noch Gegengewichte geben.

“Heul doch nicht, du lebst ja noch” ist bereits Ihr zweites Buch, das sich mit der Zeit nach dem 2. Weltkrieg auseinandersetzt. Wie wichtig ist es, dass sich Jugendliche auch heute noch mit dieser Zeit beschäftigen?

Ich finde, es wird wieder wichtiger. Weil wir inzwischen mehr Jugendliche erleben, die sich tatsächlich für den Nationalsozialismus begeistern können. Also die nicht nur rechts sind, sondern für die der Nationalsozialismus ein Vorbild ist. Die Gefahr erkennt man auch an den Wegen, wie verbotene Symbole umgangen werden. Mein Lieblingsbeispiel ist die Modemarke ,Consdaple‘. Die existiert nur deshalb, weil wenn man darüber eine offene Jacke trägt, die Buchstaben NSDAP zu sehen sind.

Ich denke in der Regel sind das Jugendliche, die sich gesellschaftlich nicht vollständig integriert fühlen, die ein geringes Selbstwertgefühl haben. Die Vorstellung, nur weil man deutsch ist schon zu den Übermenschen zu gehören, die hat was total Faszinierendes auf sie. Dazu kommt, dass diese Jugendlichen nicht viel über die Zeit wissen. Sie finden die Propaganda klasse und in der Schule haben sie dann etwas über die Shoa gelernt. Aber das macht ihnen alles keine Angst. Deshalb habe ich mir die Frage gestellt, was diese Jugendlichen kritischer machen könnte.

Was der Nationalsozialismus schließlich auch für „Übermenschen“ bedeutet hat, konnte man am besten direkt nach dem Krieg sehen, als Deutschland in großen Teilen zerbombt war und die Menschen unter Hunger und Kälte gelitten haben. Deshalb wollte ich ein Buch über Deutschland kurz nach dem Krieg schreiben und unter anderem auch aus der Perspektive eines Jugendlichen erzählen, der ein glühender Nazi war und all das geglaubt hat.

Deutsche sind zu einem Volk von Barbaren geworden

Sie konnten sich sehr viel mit Zeitzeugen unterhalten, auch während meiner Schulzeit hatten wir diese Möglichkeit. So langsam sterben die letzten Zeitzeugen. Wie ist es möglich, die Verbrechen von damals in Zukunft für junge Menschen greifbar zu machen?

Vor 10 Jahren waren Jugendliche noch genervt, weil das Thema Nationalsozialismus in der Schule rauf und runter behandelt wurde. Die Reaktionen, die ich jetzt erlebe, sind ganz anders. Mittlerweile gibt es wieder ein viel größeres Interesse für solche Fragen.

Die fehlenden Zeitzeugen werden wir in Zukunft nur durch Bücher und Filme ausgleichen können. Wir müssen versuchen, das auf diese Weise festzuhalten. Es geht dabei auch nicht um Vorwürfe oder Schuld. Keiner der Jugendlichen trägt eine Schuld, noch nicht mal ich trage eine, ich bin selbst fünf Jahre nach dem Ende des Krieges geboren.

Es geht um Verantwortung. Weil wir als Deutsche etwas erlebt haben, was andere Nationen auf diese Weise nicht erlebt haben. Innerhalb von zwölf Jahren ist aus einem Kulturvolk ein Volk von Barbaren geworden. Das hätte niemand für möglich gehalten. Viele Menschen haben aus Angst den Mund gehalten und irgendwann war alles Alltag und selbstverständlich. Wir haben das erlebt und was einmal passiert ist, kann wieder passieren.

Sie sind 1950 geboren, welche Rolle hat der 2. Weltkrieg mit all seinen Nachwirkungen in Ihrer Kindheit gespielt?

Der Krieg war für die Menschen meiner Generation immer präsent. Hamburg war zu weit über 50 Prozent zerbombt, wir haben also auf Trümmerfeldern gespielt. Wir wussten natürlich, wie das zustande gekommen ist, aber das hat uns nicht bedrückt oder so. Dann haben die Erwachsenen ständig vom Krieg geredet. Aber auf eine andere Weise, eben als Opfergeschichte.

Die Deutschen haben nach dem Krieg verdrängt, soweit es möglich war. Sie haben sich erstmal selbst als Opfer erlebt. Die Schuld wurde auf die Feinde geschoben, als ich ein Kind war. Darüber, wer den Krieg angefangen hat, die Gräueltaten und die Shoa, wurde in den 50er-Jahren nicht gesprochen.

Mit dem Eichmann-Prozess und dem Auschwitz-Prozess in Frankfurt kamen all die Dinge dann an die Oberfläche. Ich war damals so 13 Jahre und mich hat das umgehauen und das Verhältnis zu meinen Eltern hat sich total verändert. So wie mir ging es vielen Kindern und Jugendlichen. Die 68er-Bewegung hat dann endgültig den Umgang mit diesen Themen verändert.

Für Jugendbücher gibt es keine Tabu-Themen

Gab es Teile im Buch, die von echten Nachkriegsgeschichten inspiriert waren?

Alle historischen Fakten im Buch sind korrekt. Die Geschichte von dem jüdischen Jungen Jakob ist ebenfalls bis ins kleinste Detail recherchiert und wurde von einer Mitarbeiterin aus dem Konzentrationslager Neuengamme gegengelesen.

Es gibt außerdem ein persönliches Detail von mir im Buch. In dem Gebäude, in dem Jakob lebt, ist die Treppe aus der Wand gerissen und muss mit einem Tau unten festgebunden werden. Genauso war das in dem Haus, in dem meine Eltern ihr erstes gemeinsames Jahr zur Untermiete verbracht haben. Das war von 1949 bis 1950. In dem Haus bin ich auch geboren und als meine Mutter ins Krankenhaus musste, haben mehrere Männer aus dem Haus diese Treppe runtergehalten, damit sie runtergetragen werden konnte.

Wie wichtig ist es, Themen wie Krieg oder Tod in Büchern für junge Menschen zu behandeln?

Generell ist das schon wichtig, aber wir müssen ein wenig die Altersgruppen unterscheiden. Bei Kindern ist es schwieriger, weil man sehr genau gucken muss, was man erzählt und vor allem wie man es erzählt. Damit muss man sehr sensibel umgehen. Jugendliche dagegen interessieren sich für alles Mögliche und nehmen alles Mögliche wahr. Wir brauchen uns nicht vormachen, Jugendliche vor allem Schrecklichen bewahren zu müssen. Die gucken sich auf ihren Handys sowieso noch viel Schrecklicheres an. Insofern ist es umso wichtiger, ihnen von dem zu erzählen, was wir wichtig finden.

Gibt es Tabu-Themen, die Sie in Ihren Büchern nicht behandeln würden?

Älteren Jugendlichen können Sie, wie gesagt, so gut wie alles zumuten. Aber Tabu-Themen gibt es weder für Kinder noch für Jugendliche. Es hängt immer von der Situation der Kinder ab und wie ich mit einem Thema umgehe. Ich denke, man muss da einfach behutsam sein. Aber ich bin überzeugt, je jünger die Kinder sind, desto wichtiger ist es, dass sie erstmal den Glauben entwickeln, die Welt sei ganz toll und das Leben ist eine einzige Freude.

Irgendwann, wird es sie dafür umso mehr erschüttern, was es alles Schreckliches in der Welt gibt und sie werden es ändern wollen. Kinder dagegen, die ich von Anfang an mit allzu viel Furchtbarem verschrecke, sind dadurch daran gewöhnt und nehmen es gar nicht mehr richtig wahr. Älteren Jugendlichen können Sie so gut wie alles zumuten.

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