SPD erteilt Wahlrechtsreform endgültig Absage. Damit könnte ein Bundestag mit über 700 Abgeordneten Realität werden. Kritik an „scheinheiliger“ Begründung.
Aus für die Wahlrechtsreform: Vor der Bundestagswahl soll es keine Änderungen mehr geben. Damit könnte nach dem 24. September ein XXL-Bundestag die Folge sein, mit 700 oder mehr Abgeordneten statt bislang 630. Mehrfach hatte Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) energisch eine Reform angemahnt, zuerst in der konstituierenden Sitzung 2013 und zuletzt während der Bundesversammlung im Februar. Nun erteilt die SPD den Überlegungen endgültig eine Absage. „Wir sind gegen Schnellschüsse“, erklärt Fraktionsgeschäftsführerin Christine Lambrecht. Ihr Argument: Es seien nur noch wenige Monate bis zur Wahl, überall würden bereits die Wahllisten aufgestellt. „Es macht keinen Sinn, jetzt noch eine Wahlrechtsreform durchzupeitschen“, ist die SPD-Politikerin überzeugt. „Das wäre diesem Thema nicht angemessen.“
Kritiker monieren, die Fraktionen hätten doch genügend Zeit gehabt, die Reform sorgsam vorzubereiten. „Ich finde es von der SPD scheinheilig, von Schnellschüssen zu sprechen, wenn es um eine Änderung des Wahlrechts noch vor der Wahl geht“, erklärte Reiner Holznagel, Präsident des Bundes der Steuerzahler, gestern im Gespräch mit unserer Redaktion. „Alle Fraktionen sind sich einer drohenden Aufblähung des Bundestags schon seit Jahren bewusst!“ Alle Fraktionen, auch die SPD, hätten in dieser Wahlperiode mehr als drei Jahre Zeit gehabt, dieses Problem zu entschärfen. „Doch in der jüngsten politischen Diskussion darüber, wie eine kurzfristige Deckelung der Bundestagssitze durchaus noch gelingen kann, kam die SPD überhaupt nicht vor: Sie stand bei diesem Thema von Anfang an auf der Bremse und hat sämtliche Ideen anderer Fraktionen blockiert“, kritisiert Holznagel. „Das Scheitern wird zu einem weiteren großen Vertrauensverlust in unsere Demokratie führen“, ist der Parteienkritiker Hans Herbert von Arnim überzeugt (siehe rechts).
Tatsächlich war der Vorschlag, die Zahl der Abgeordneten über ein „Kappungsgrenze“ im Grundgesetz auf 630 zu begrenzen, am Widerstand von SPD, Grünen und Linke gescheitert. Man habe sehr früh gesagt, „dass wir den Vorschlag für untauglich halten“, kontert SPD-Expertin Lambrecht. Lammert reite „ein totes Pferd“. Geht es nach der SPD, soll eine Enquetekommission nach der Wahl Vorschläge für eine Reform erarbeiten. Auch die Grünen hatten sich gegen eine Deckelung der Mandate ausgesprochen.
Das Bundesinnenministerium warnte zuletzt, eine kurzfristige Änderung der Spielregeln könnte zu einer Beanstandung der Bundestagswahl durch die OSZE führen. Kritiker warnen nicht nur vor hohen Kosten, sondern sehen bei einem immer größeren Bundestag auch dessen Arbeitsfähigkeit in Gefahr.
Das Problem entsteht durch die sogenannten Überhangmandate. Diese entstehen, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate erzielt, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis eigentlich zustehen würden. Seit einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vor einigen Jahren müssen Überhangmandate ausgeglichen werden. Im Klartext: Die Zahl der Abgeordneten wird solange erhöht, bis sie wieder den Mehrheitsverhältnissen bei den Zweitstimmen entspricht. Einige Experten rechnen deshalb damit, dass die Zahl der Abgeordneten im Bundestag angesichts des aktuellen Stands in den Umfragen sogar auf bis zu 800 wachsen könnte.
Nachgefragt: „Der Schaden ist noch nicht abzusehen“
Mit Professor Hans-Herbert von Arnim, Verwaltungsrechtler an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer, sprach Rasmus Buchsteiner.
Die Wahlrechtsreform ist endgültig gescheitert. Mit welchen Auswirkungen rechnen Sie?
Von Arnim: Das Scheitern wird zu einem weiteren großen Vertrauensverlust in unsere Demokratie führen. Der Schaden ist in seiner Dimension noch nicht abzusehen. Im Augenblick wird ja lediglich befürchtet, dass der Bundestag aus allen Nähten platzen wird. Aber wenn es erst einmal so weit ist und der Bundestag von der bisherigen Sollgröße von 598 Mandaten auf bis zu 700 Abgeordnete aufgebläht wird, dürfte es ein böses Erwachen geben.
Warum ist das der Fall?
Vertrauen wird beschädigt, wenn Parlamentarier aus reinem Eigeninteresse eine Reform verhindern, die der Aufblähung des Bundestages um bis zu 100 Mandate entgegenwirken könnte. Im Ergebnis werden die Chancen derer, die bereits im Parlament sind, auf eine Wiederwahl deutlich erhöht. Egoistische Interessen führen also dazu, dass diese unerlässliche Reform unterbleibt. Man hat diese Reform unter falschen Vorwänden scheitern lassen. Dabei wäre sie bitter notwendig gewesen.
Bleiben sie auch bei Ihrer Kritik an den Bezügen und der
Altersversorgung von Parlamentariern?
Diese Kritik gilt umso mehr. Abgeordnete erhalten schon nach einem Jahr der Mitgliedschaft im Parlament einen Anspruch auf eine spätere Altersversorgung. Auch für Ausschussvorsitzende und stellvertretende Fraktionsvorsitzende gibt es – entgegen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – üppige Zulagen.