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Pflege-Skandal Die Alarmglocken schrillen

Von Rasmus Buchsteiner | 18.04.2016, 21:00 Uhr

Wie die Politik auf den neuen Pflege-Skandal reagiert. Ruf nach Ausweitung der Kontrollen

Abzocke bei Pflegeleistungen? Am Wochenende war der Skandal um möglicherweise milliardenschweren Abrechnungsbetrug vor allem durch Banden aus der früheren Sowjetunion publik geworden. Jetzt debattiert die Politik über notwendige Konsequenzen. Patienten müssten sicher sein können, dass die zur Verfügung stehenden Mittel auch tatsächlich für ihre Pflege eingesetzt würden, so ein Sprecher von Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe. Der CDU-Politiker will über das Thema kurzfristig mit den Gesundheitsministern der Länder und dem Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen beraten.

Es geht um Fälle wie diesen in Stuttgart: Anfang Dezember 2015 hatten Ermittler dort die Zentrale eines ambulanten Pflegedienstes mit mehr als 100 Mitarbeitern durchsucht. Die Inhaberin der Firma soll einen Schaden von mehreren hunderttausend Euro verursacht haben – u.  a. durch den Einsatz von Pflegekräften ohne erforderliche Qualifikation oder durch Abrechnung nicht erbrachter Leistungen. Zudem seien Mitarbeiter ohne Anmeldung beschäftigt worden, hieß es. Es folgten Durchsuchungen in Oberschwaben, im Kreis Dachau in Bayern sowie im Ruhrgebiet. Solchen und ähnlichen Fällen sind die Ermittler auf der Spur.

Einziger MV-Fall noch ohne Ergebnis
Am 16. Juni vorigen Jahres waren im Großraum Rostock Einrichtungen und Büros des Pflegedienstes „Möwe“ durchsucht worden. Bis heute der einzige bekannte Fall von „Pflege-Mafia“ in MV.  Die Razzia in der Vorwoche bezog sich zwar auch auf ambulante Pflege, hat aber andere Hintergründe. Bis heute aber gibt es im  Möwe-Verfahren kein Ergebnis. Zwar berichtete die „Ostseezeitung“, die Kripo habe jetzt 326 Seiten Ermittlungsbericht an die Staatsanwaltschaft abgegeben. Deren Sprecher Harald Nowack aber verwies gegenüber  unserer Zeitung  darauf, dass der ermittelnde Staatsanwalt noch immer die zahllosen Beweismittel  analysiere. Zudem läuft das Verfahren offenbar als „normale“ Wirtschaftskriminalität, sonst wäre  das Landeskriminalamt (LKA) einbezogen – was es nach eigener Aussage nicht ist. Das Bundeskriminalamt dagegen sieht deutliche generelle Anzeichen für Organisierte Kriminalität (OK).   Das Schweriner Sozialministerium räumte ein, gegebenenfalls  müssten die Befugnisse des Medizinischen Dienstes der Kassen (MDK) ausgeweitet werden, schließlich sei die Kontrolle der Pflegeeinrichtungen wichtig. Staatssekretär Nikolaus Voss (SPD) sagte, dafür müsste das Pflegegesetz geändert werden und das falle in die Zuständigkeit des Bundes. Zwar könnten die Länder  per Bundesratsinitiative dem Bund Druck machen. Dafür gibt es aber keine Signale. Die gab es dafür am Montag vom Bund. msei

Der Skandal lässt auch bei den Kommunen die Alarmglocken schrillen. „In einigen Städten ist es vermehrt zu staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen aufgrund von Fällen der organisierten Kriminalität im Pflegebereich gekommen“, erklärte Gerd Landsberg, Hauptgeschäftsführer des Städte- und Gemeindebundes, gestern gegenüber unserer Berliner Redaktion. Es seien Ermittlungen in Berlin, Bremen und Bremerhaven, Duisburg, Rostock und Stuttgart bekannt. „Gerade in der ambulanten Pflegebranche ist sicherlich mit einer größeren Dunkelziffer zu rechnen“, sagte Landsberg. Abrechnungsbetrug, Urkundenfälschung, falsch ausgestellte Pflegedienstnachweise und fiktive Pflegepläne seien die häufigsten Verstöße. Landsberg fordert rasche Aufklärung.

Die Bundesregierung will umgehend handeln. In einem Brief verlangt ihr Pflegebeauftragter Karl-Josef Laumann vom Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) Vorschläge für mögliche gesetzgeberische Konsequenzen zur Verbesserung der Kontrollen. Im Gespräch mit unserer Zeitung reagierte GKV-Vorstand Gernot Kiefer: „Krankenkassen müssen auch im Bereich der häuslichen Krankenpflege ein systematisches Prüfrecht vor Ort bekommen – ähnlich wie es heute bereits im Rahmen der Pflegeversicherung üblich ist.“ Bei der Pflegeversicherung erfolge für die Qualitätsprüfungen eine Begutachtung vor Ort. „Bisher ist dies bei der häuslichen Krankenpflege grundsätzlich nicht gegeben“, so der GKV-Vorstand.

Kommentar: Der Fehler liegt im System
Wer kriminellen Geschäftemachern das Handwerk  legen will,  muss unangekündigt überprüfen können, was  sie abrechnen und ob die Leistungen auch erbracht werden. Der Betrug geschieht im Verborgenen. Die Pflegeleistungen werden schließlich  in der Wohnung der Patienten erbracht – dort, wo  der Medizinische Dienst der Krankenkassen nach jetziger Rechtslage nur in begründeten Verdachtsfällen hindarf.  Kriminelle, die ambulante Pflegedienste missbrauchen, um das große Geld zu machen, müssen bisher kaum fürchten, auf frischer Tat ertappt zu werden. Bei dieser sehr speziellen Form von Organisierter Kriminalität geht es um womöglich milliardenschweren Betrug. Das verlangt  eine harte Antwort des Rechtsstaats und politische Konsequenzen. Einige sehr sinnvolle Vorschläge der Kassen für verschärfte Kontrollbefugnisse liegen bereits auf dem Tisch. Es ist höchste Zeit, dass der Bundestag endlich Änderungen auf den Weg bringt, die es erlauben, das Problem mit systematischem Betrug in der häuslichen Pflege in den Griff zu bekommen.