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Interview Heiner Geißler „Die Kirchen sind nicht mutig genug“

Von Andreas Herholz | 31.10.2016, 20:45 Uhr

Interview mit früherem CDU-Generalsekretär Heiner Geißler zum Reformationsjubiläum

Die evangelische Kirche hat gestern das Festjahr zum 500. Reformationsjubiläum eröffnet. Andreas Herholz sprach mit Heiner Geißler, dem früheren Bundesminister und CDU-Generalsekretär sowie Autoren des Buches „Was müsste Luther heute sagen?“ über die Bedeutung der Reformation.

Was würde Martin Luther wohl heute 499 Jahre nach seinem Thesenanschlag sagen?

Geißler: Die Unordnung und gewaltigen Probleme in der Welt von heute sind noch größer als in der Welt Martin Luthers. Sein Rat an die beiden großen christlichen Kirchen wäre wohl: Macht nicht die dieselben Fehler wie wir damals. Redet miteinander auf Augenhöhe. Katholiken und Protestanten müssen sich auf die Lehren des nicänischen Glaubensbekenntnisses konzentrieren. Dann wäre auch eine Wiedervereinigung der Kirchen möglich.

Welche Rolle würde Luther heute einnehmen?

Er würde weiter für die Einheit der Kirchen mit einer einheitlichen Repräsentanz kämpfen. Die Welt wird von unchristlichen und inhumanen Werten beherrscht. Ein neuer Luther müsste heute die Kirchen fragen, warum sie nicht gemeinsam dagegen Widerstand leisten, vor allem gegen die Vorherrschaft des Kapitals und die zunehmende Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Sie müssen die Botschaft des Evangeliums im Auftrag von zwei Milliarden Christen auf der Welt durchsetzen und den ökonomischen Absolutismus bekämpfen. Gemeinsam müssen sie Widerstand leisten wie ihn Luther damals gegen die Kurie in Rom geleistet hat. Die Kirchen sind nicht mutig genug, einen Streit anzufangen und Widerstand gegen die Ökonomisierung und Ausbeutung der Gesellschaft sowie gegen die wachsende Armut zu leisten. Da gibt es nur wenige Ausnahmen, eine davon ist Papst Franziskus. Manche sagen, Franziskus sei der neue Luther. Das kann man so nicht sehen. Denn die Hauptbotschaft des Papstes ist der Aufruf zur Barmherzigkeit und die Pflicht, denen zu helfen, die in Not sind. Das ist die eigentliche Botschaft, die Jesus verkündet hat.

Was kann das Reformationsfest im Jubiläumsjahr leisten?

Das Reformationsfest droht zu scheitern. Die theologische Irrlehre der Vergangenheit von der Erbsünde und der Sündhaftigkeit der Welt und des Menschen und der daraus resultierenden Rechtfertigungslehre ist nicht die Botschaft des Evangeliums. Deshalb können immer weniger Menschen die Botschaft der Kirchen verstehen. Wenn die evangelische und katholische Kirche sich nicht von der Einschätzung verabschieden, dass der Mensch – vom Kleinkind bis hin zum Nobelpreisträger – generell nur ein Sündenbündel sei, werden sie scheitern. Beide Kirchen müssen diese abstoßende theologische Lehre in diesem Jubiläumsjahr beseitigen, wenn sie wieder mehr Menschen für sich gewinnen wollen. Mit einer menschenverachtenden Sünden-Theologie wird das nicht gelingen.

Was für ein Menschenbild hatte Luther?

Luther hatte vor allem ein falsches Gottesbild. Daraus resultierte auch seine falsche Beurteilung bestimmter Menschen. Für Luther war Gott der Gnädige, aber auch der Zornige, der Gütige, aber auch der Richtende.