
Vor 175 Jahren dichtete August Heinrich Hoffmann von Fallersleben unsere Nationalhymne.
Ein wenig mürrisch blickt er von seinem Sockel herab, als ahnte er, dass ihn die Nachwelt mit gemischten Gefühlen betrachtet. Lange Mähne, Vollbart, die Augen voll Feuer, spöttischer Zug um die Mundwinkel – ein streitbarer Geist, unangepasst. Ein schlichtes „Heinrich Hoffmann von Fallersleben, 1798 – 1874“ ist in den Sockel eingemeißelt.
Die schwerhäuptigen Fallersleber Eichen haben Hoffmans Wiege schon bewacht, als Wolfsburg auf Führer-Geheiß noch „Stadt des KdF-Wagens bei Fallersleben“ hieß. Hoffmans Geburtshaus birgt, wie schon zur Kindheit des „Deutschlandlied“-Dichters, einen Gasthof. Eine Balkeninschrift an der Fassade des liebevoll restaurierten Fachwerkgebäudes zeugt vom Ungeist, der einst durch deutsche Lande wehte: Der in Blattgold gepinselte Größenwahn „Deutschland, Deutschland über alles ...“
Fallerslebens Altstadtkern suggeriert Heimat, Nostalgie, Vertrautheit: Viel schwarzweißes Fachwerk, viele Spitzendeckchen mit einem blau eingestickten „Einigkeit und Recht und Freiheit“, viele Kunsthandwerksstuben und Boutiquen unter altem Gebälk. Ein China-Mann, ein Ungarn-Grill, ein Dart- und ein Yachtclub haben sich dazwischengemogelt. Aber Hoffmann dominiert. Schon an den Ortseingängen grüßt der prominente Bartträger den Besucher: „Willkommen in der Hoffmannstadt!“ Die Realschule, ein Chor und ein Lionsclub tragen seinen Namen. Bäckereien backen Hoffmann-Brote. Das Restaurant im Hoffmann-Haus hat eine „Hoffmannpfanne“ auf der Speisekarte – Schwein, Rind und Pute mit „viel Grillspeck“. Vor dem alten „Brauhaus“ schlürfen Touristen in der Sonne Hoffmann-Bier. Einen Steinwurf vom Hoffmann-Haus entfernt jagen Schwalben um den kupfernen Turmhelm der klassizistischen Michaeliskirche. Ganz in der Nähe, zwischen denkmalgeschützten Laubbäumen, erhebt sich das Fachwerkschloss am Schlossteich. Seit 1991, fast so lange wie Einigkeit und Recht und Freiheit im ganzen Deutschland gelten, empfängt hier das Hoffmann-von-Fallersleben-Museum die Gäste aus aller Welt. Rechtzeitig zum Jubiläum hat die Auto-Stadt das Museum aufgepeppt und modernisiert. Bis zu 40 000 Touristen inspizieren alljährlich das Renaissance-Gemäuer, darunter viele Schulklassen. Sie bestaunen die unzähligen Artefakte hinter Glas: Hoffmanns Sparbüchse, seine Brieftasche mit Goldinschrift, seine Prunkuhr, seine Visitenkarte, der Konzertflügel der Ehefrau Ida, die Schleife von seinem Tauf-Häubchen.
Auf einer Zeitreise lernen die Besucher den kleinen Fallersleber Jungen ebenso kennen wie den oft unglücklich verliebten Germanistik-Studenten in Bonn, Göttingen, Weimar und Jena, den Wissenschaftler in Breslau, den Bibliothekar in Corvey und den Kämpfer der Freiheits- und Einheitsbewegung im Vormärz. „Hoffmann war schon zu Lebzeiten ein Popstar“, sagt die Berliner Politikwissenschaftlerin Gabriele Henkel, Vize-Chefin des Museums. 550 Lieder stammen aus seiner Feder. „Er war einer der am meist vertonten Dichter des 19. Jahrhunderts.“ Ein bereits 1876 veröffentlichtes Verzeichnis nennt sogar mehr als 1500 Werke. 80 davon hat Hoffmann selbst vertont, den Rest seine Kumpels: Brahms, Schumann, Liszt, Mendelssohn-Bartholdy. Hoffmann traf sie alle. „Wer hat die schönsten Schäfchen?“ Der Mann aus Fallersleben natürlich. „Alle Vögel sind schon da“, „Kuckuck, Kuckuck“, „Summ, summ, summ“, „Winter ade“, „Morgen kommt der Weihnachtsmann“.
Hoffmann, ein Hannes Wader, ein Degenhardt des 19. Jahrhunderts?
Die Franzosenzeit in Fallersleben prägt ihn nachhaltig. Der ländliche Flecken gehört zum Königreich Westphalen unter Napoleons Bruder Jérôme. Preußen, Schweden und Franzosen ziehen marodierend durch die Gassen. Zeitlebens kämpft Hoffmann gegen die „Unterdrückung der Wahrheit und jeder ... freisinnigen Regung“. Irgendwann hat er Fürstenwillkür und Ständegesellschaft satt. 1841 geißelt der selbst ernannte Berufsquerulant in seinen „Unpolitischen Liedern“ Kleinstaaterei, Adelsherrschaft, Zensur und Polizeibespitzelung. Die bissige Schelte trifft den Nerv der Zeit und die Nerven der Herrschenden. Der Professor für Sprache und Literatur in Breslau wird gefeuert, bespitzelt, steckbrieflich gesucht. Er landet auf der Straße, geht ins Exil. Hoffmann flüchtet auf das damals noch englische Helgoland. Er geht auf Hummer- und Haifischfang, beobachtet das Begräbnis eines politischen Flüchtlings. Nach einem ordentlichen Saufgelage mit Patrioten vom Festland fühlt er sich „sehr verwaist“. Ebbe und Flut der Gefühle: Hoffmann hat eine unglückliche Liebe auszukurieren. Wieder einmal zu einer adeligen Dame, die er als Bürgerlicher nicht erreichen konnte: „Da ward mir so eigen zu Muthe. Ich musste dichten...“ So entsteht am 26. August 1841 auf dem roten Felsen das Deutschlandlied.
Drei Tage später offeriert der Exilant dem Verleger Campe während eines Strandspaziergangs das Lied: Stolz liest er den Text vor. „Noch ehe ich damit zu Ende bin, legt mir Campe vier Louisdor auf meine Brieftasche.“ Der Verleger wittert ein gutes Geschäft: „Kann ein Rheinlied werden.“ Am 4. September überbringt Campe dem Dichter auf Helgoland den Erstdruck. Ausgerechnet mit Haydns Kaiser-Quartett, der Lobpreisung auf einen Monarchen: „Gott erhalte Franz, den Kaiser“ von Österreich. Einen Monat später, am 5. Oktober 1841, ertönt das Lied erstmals öffentlich bei einem Fackelzug auf dem Hamburger Jungfernstieg. Mit der – heute verbannten - Textzeile „Deutschland, Deutschland über alles“ zu Beginn der Hymne brachte Hoffmann seinen Wunsch nach einer vereinten Nation zum Ausdruck. Aus damaliger Sicht eine Utopie: Deutschland war zersplittert in 39 Einzelstaaten, die sich 1815 auf dem Wiener Kongress im Deutschen Bund zusammengeschlossen hatten.
Die Karriere seines Liedes zur Nationalhymne hat Hoffmann nicht mehr erlebt. 1860 übernimmt er das Amt des Bibliothekars in der fürstlichen Bibliothek von Schloss Corvey. Das Familienglück mit Frau und Kind währt nur ein paar Monate. Ehefrau Ida stirbt noch im selben Jahr nach einer Totgeburt. Der frühe Tod trifft Hoffmann hart. Trost findet er in seinem Sohn Franz (1855 – 1927), der später als Landschaftsmaler reüssiert. Am 19. Januar 1874 raffen zwei aufeinander folgende Schlaganfälle Hoffmann dahin. 4000 Menschen folgen dem Sarg bei der Beerdigung auf dem Klosterfriedhof von Corvey. Erst 1922, 81 Jahre nach seiner Entstehung, erhebt die sozialdemokratische Regierung unter Reichspräsident Friedrich Ebert das „Deutschlandlied“ zur Nationalhymne. Ab 1933 wehen Hakenkreuze am Hoffmannhaus in Fallersleben: Seither scheiden sich an Hoffmanns Vermächtnis die Geister: Heinrich Böll fand die Zeilen immer nur „peinlich“, Golo Mann erkannte in dem Lied „zarte Lyrik“. Kurt Tucholsky bezeichnete die erste Strophe als „törichten Vers eines großmäuligen Gedichts“. Auch Bundespräsident Heuss hätte das Lied gern ganz aus dem kollektiven Gedächtnis der Deutschen gestrichen. Von den Nazis missbraucht, von den Alliierten verboten, von vielen geschmäht, wird das Lied 1952 dennoch zur Nationalhymne bestimmt. Nach dem Mauerfall ist die dritte Strophe auch die Hymne des wiedervereinigten Deutschlands. Sie erklingt bei jedem Olympiasieg für deutsche Sportler, bei jedem Staatsbesuch und an jedem Tag der deutschen Einheit.
Thomas Olivier