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Flucht, Vertreibung und Neuanfang: Ihre Geschichte Tödlicher Schuss traf den Bruder

Von Horst Zänger | 15.07.2016, 10:46 Uhr

Horst Zänger aus Schwerin hat die Fluchtgeschichte seiner Frau und seiner Schwiegereltern aufgeschrieben

Mitten in der reizvollen pommerschen Hügellandschaft, am Rande der Klöwsteiner Berge, liegt das kleine, ein wenig verträumte Dorf Rohr. Mit einem See in seiner Mitte und ausgedehnten Waldflächen in seiner Umgebung ist Rohr ein Teil dieser schönen Hügellandschaft Hinterpommerns.

In diesem 500-Seelen-Ortlebte auch der Polsterer und Sattler Friedrich Schmoldt. Arbeit gab es für ihn und seine Frau Margarete zum Glück genug, denn immerhin waren in der Familie täglich sieben Mäuler satt zu machen. Es waren fünf Geschwister, Ilse, bereits 13 Jahre alt; Bruder Hans 12 Jahre; Schwester Enga, 10 Jahre; Bruder Fritz, 6 Jahre und gerade zur Schule gekommen, und Christel, die im Dezember 1936 geboren wurde. Schon Ostern 1937 ging die Älteste, Ilse, zum Onkel Hans Kuball in Freienwalde bei Stargard in eine Lehre als Fleisch-Mamsell, der Bruder Hans folgte Ostern 1938 ebenfalls dorthin, um den Beruf eines Fleischers zu erlernen. Christel als Jüngste wurde zu Ostern 1943 in Rohr eingeschult. Bruder Fritz verließ den Ort, um in Bütow bis 1944 die „Aufbauschule“ zu besuchen. In ihr richtete man dann ein Lazarett ein. Alle Jungs ab dem 14. Lebensjahr wurden von der Schule zum Ostwall-Schippen geschickt.

Dann kam Weihnachten 1944, ein trübes Fest für alle. Bruder Fritz war zwar wieder in Rohr und machte Posthilfsdienst, der Vater aber war beim Volkssturm eingesetzt, niemand wusste, wo. Bruder Hans war unweit vom Ladoga-See nordöstlich von Leningrad schwer verwundet worden, Schwester Enga machte bereits ihr Pflichtjahr in einem Haushalt außer Haus.

Die Front rückte immer näher. Inzwischen waren Vater und Bruder Hans wieder zu Hause angekommen und hofften auf Frieden für das Land und ihre Familie, aber weit gefehlt. Am 2. März 1945 ging das ganze Dorf auf den Treck. Am Rande eines kleinen Ortes an der Lebra wurde der Zug ausgeraubt, Männer, unter ihnen auch der Vater, mussten in Richtung Osten zum Einsatz. Bruder Hans starb am 11. März auf der Flucht an einem Rastplatz, als ein Schuss ihn unvermittelt tödlich getroffen hatte. Man musste ihn, wie viele andere Verstorbene des Trecks, einfach zurücklassen. Fritz hatte sich vom Treck abgesetzt und schlug sich nun allein gen Westen über die Ostsee durch. So landete er 1945 in Celle bei seinem Cousin Herbert und gründete später in Bayern eine Familie.

Nun waren die Mutter, Enga und die erst neunjährige Christel ohne Vater und die Brüder und hatten den schweren Weg der folgenden Jahre allein zu bewältigen. Der Treck war inzwischen gestoppt und aufgehalten worden und alle, die noch übrigblieben, wurden in ihren Heimatort zurückbeordert. In Rohr waren inzwischen Polen eingezogen, Unter polnischem Besitz war das Schloss eine Zeit Forstschulungsheim, bis es eines Tages zum Teil ausbrannte.

Im Jahr 1947 begann die endgültige Vertreibung aus der Heimat und schließlich die Aussiedlung aller Deutschen. Wieder wurden Trecks zusammengestellt, die mit unbekanntem Ziel in Richtung Westen auf die Reise gehen sollten.

Zum Glück war Papa Schmoldt wieder daheim eingetroffen und so waren die Frauen wenigstens nicht allein. Vorzubereiten war nicht mehr viel, denn von heute auf morgen kam der Termin des Abtransportes. Im September startete der Treck und eine der Stationen war das Umsiedlerlager Hoyerswerda in Sachsen. Jeder erhielt einen Umsiedlerpass und die Gesundheitsbescheinigung. Von dort erfolgte im Oktober 1947 eine Verlegung nach Bortewitz im Kreis Grimma, ehe es im November zur Umsiedlung nach Schwerin kam.

Hier konnten die Schmoldts bleiben, da Schwester Ilse bereits bei der Schweriner Schlachter-Firma Roost in Stellung gegangen war. Und so wurden in das Haus der Familie in der Puschkinstraße auch Enga und Schwester Christel mit ihren Eltern aufgenommen.

Nur langsam ordnete sich das Leben. Vater Schmoldt konnte eine Anstellung bei der Schweriner Möbel-Firma Flindt bekommen. Ein Stück Gartenparzelle im Werder erleichterte das Heimischwerden. Ilse hatte inzwischen in die Fleischerfamilie Roost eingeheiratet, Christel, die Jüngste der Geschwister, die im Jahr 1957 meine Frau wurde, absolvierte ein Lehrerstudium. Enga hatte bald eine Anstellung als Lageristin beim GHK Glas-Keramik am Großen Moor, später beim Chemiehandel im Großlager am Gosewinkler Weg, wohin sie täglich mit dem Fahrrad, auch dem Moped, fuhr.

Weitere Jahre gingen ins Land, und die Zeit nach der Wende erlebte aus der Familie der in Rohr geborenen Schmoldts allein Schwägerin Enga. „Tante Enga“, als Schwägerin, Tante und Großtante von allen so genannt, wäre am 1. April 2016 90 Jahre alt geworden. Am 10. März starb sie als letztes Mitglied der Familie des Sattlers und Polsterers Friedrich Schmoldt.