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Flucht, Vertreibung, Neuanfang - Ihre Geschichte Der schwere Anfang in der neuen Heimat

Von Redaktion svz.de | 08.10.2016, 00:00 Uhr

Erich Tröster aus Ludwigslust erzählt die Geschichte seiner Großeltern: Aus Böhmen kommend mussten sie mit über 60 Jahren in Mecklenburg von vorn beginnen

Erich Tröster wurde am 21. April 1935 in Loschowitz geboren. Im Februar 1946 musste die Mutter mit ihm und einer Schwester den Hof verlassen. Der Vater war in den letzten Kriegswochen im Lazarett gestorben. Die älteren Schwestern mussten zu diesem Zeitpunkt Zwangsarbeit auf Gütern leisten. So wurde die Familie getrennt und fand erst später wieder zusammen. Die Sehnsucht nach der alten Heimat blieb groß. Erich Tröster schreibt: „Mit Kindern und Enkeln durchfuhr und durchwanderte ich mein Heimatland. Schon zu DDR-Zeiten entwickelte sich meist ein freundliches Verhältnis mit den jetzigen Bewohnern.“ Wie schwer es war, mit nichts in der Fremde anzukommen, hat er anhand der Geschichte seiner Großeltern beschrieben.

Meine Großeltern zeigten sich, obwohl sie alle materiellen Werte verloren hatten, trotz ihres fortgeschrittenen Alters ungebrochen, machten in vergilbten Büchlein und alten Taschenkalendern weiterhin Aufzeichnungen für ihre Nachfahren. Die Quarantäne im Lager Fichtenhusen bei Bad Kleinen ist vorbei, mit dem Lastwagen werden sie nach Niendorf an der Rögnitz gebracht. Meine beiden Schwestern Emmi und Liesl lebten in Erdhütten in Nesow bei Rehna, Mutter, Ilse und ich hausen noch in Blockhütten im Wald bei Ventschow am Schweriner See und keiner von uns weiß, wo die anderen sich befinden! Ein kleines Zimmer in einer Häuslerei wird den Großeltern zugewiesen, später erhalten sie in einem Bauerngehöft eine Ausgedingerwohnung.

Schon eine Woche nach der Ankunft im neuen Heimatdorf fällen sie am 29. September 1946 ihnen zugewiesene Kiefern bei Laupin. Großvater sägt nach heimatlicher Tradition die Stämme auf Maß, stapelt sie sorgfältig, vier Festmeter sind es insgesamt. Am 21. Februar 1947 wird der ehemalige herrschaftliche Heger Franz – geboren am 25. November 1881 in Ober-Tenzel, Böhmen – mit täglich acht Stunden zur Waldaufsicht eingesetzt. Endlich können meine Großeltern über ein geregeltes Einkommen verfügen. Zwar hat die Reichsmark keinen Wert mehr, doch ganz ohne Geld geht’s halt auch nicht. Das sehen auch die Macher in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) so, am 5. August gibt es für jeden „Umsiedler – im Staat der Arbeiter und Bauern darf es weder Flüchtlinge noch Vertriebene geben – einmalig 300 RM.

Frantisek, er nennt sich jetzt wieder Franz, muss viele Dinge gleichzeitig in Angriff nehmen, damit seine Frau und er einigermaßen satt werden. Er erhält die Lebensmittelkarte II – Tagesration 350 g Brot, 30 g Nährmittel, 20 g Zucker, 25 g Fleisch, 10 g Fett, 30 g Marmeladenersatz und 125 g Malzkaffeee als Monatsration – Großmutter bekommt als Nichtwerktätige natürlich weniger. Erst als uns Neubürgern in Muchow Parzellen der Gemeinde und der evangelischen Kirche zugeteilt werden, wir Kartoffeln, Weizen und Gemüse anbauen können, ich selbst durch Ährensammeln jährlich mehr als eine halbe Dezitonne Roggen sammle, schickt Mutter den Großeltern regelmäßig Nährmittel und Brotmarken. Das fällt uns leicht, da auch Liesl beim größten Bauern des Dorfes arbeitet und kostenlos Zuckerrüben für das Kochen von Sirup und Kartoffeln zur Gewinnung von Stärkepulver nutzen darf. Oft ist eine von Sirup aufgeweichte Schwarzbrotschnitte mein Pausenbrot, während die Häusler- und Büdnerskinder duftende Schinken- und Mettwurstschnitten verschlingen und in der Mittagspause zum evangelischen Pfarrhaus schlendern, wo es für sie Schulspeisung gibt – natürlich nicht für katholische „Umsiedlerkinder“. Wir schlürfen stattdessen eine gesalzene Wassersuppe aus einem Esslöffel voll angeröstetem Mehl. Natürlich bekommen auch die katholischen Pfarrer Essenspakete für Bedürftige, doch ich sehe davon nur eine einzige Fleischbüchse, die es zur Belohnung gibt, da ich infolge zerrissener Schuhe in der Fastenzeit nicht zum Kindertanz ging.

Praktisch aus dem Nichts errichtet Franz eine kleine Imkerei mit einem Dutzend Völkern, züchtet wie in der Heimat sanftmütige und fleißige Bienen. Er hat nun endlich mit dem goldgelben Linden- und dem tiefdunklen Waldhonig ein kleines Tauschäquivalent. Und damit nicht genug, auf einem ehemaligen Wildacker aus reinstem Sand darf er ein Gärtchen anlegen. Salat, Radieschen, Möhrchen und Kohlrabi teilt er nun mit Meister Lampe, Rehen und stattlichen Rothirschen und die winzigen Ökokartoffeln mit der leider äußerst standorttreuen Wildschweinrotte.

Wildbeobachtungen sind für ihn nun aus nächster Nähe möglich, Hirsche und Wildschweine sowie unzählige Scharen von Wildgänsen, Kranichen und Singschwänen gab es nicht einmal in der Heimat.

Neben dem Kampf ums täglich Brot muss die Rente beantragt werden. Zwar hat durch ein Abkommen vom 14. März 1940 die Reichsversicherungsanstalt für Angestellte Anwartschaften und Leistungen auch für die Sudetendeutschen übernommen, die Versichertenkonten lagen aber noch in der Tschechoslowakei, Vordrucke und Bearbeitung sind nur gegen eine gepfefferte Konsulargebühr zu erwirken. Rentenbescheid für Großvater vom 23. März 1948 55,20 RM – mit der Rentenerhöhung vom 1. Mai 1945 10 DM plus und Zuschlag für die Ehefrau von 10 DM sind es 99 DM.

Zusehends lassen Großmutters Kräfte nach, sonntags ist Franz jetzt allein unterwegs. Ein Bildchen von Papst Johannes XXIII., ausgeteilt anlässlich der Hl. Osterkommunion 1960 in der Dömitzer Kirche, kündet von Großvaters wohl letztem Kirchgang. Danach gibt es sonntags nur noch Gebete mit Großmutter vor der Madonna von Philippsdorf in der Gebetsecke der winzigen Küche. Und es kommt der Tag, an dem wir die Großeltern zu meiner Mutter und Schwester Liesl holen, wo Großmutter im Kreise ihrer Urenkel für Monate wieder auflebt, doch bald verliert sie ihren Kampf gegen eine unheilbare Krankheit.

Nachdem Großvater infolge häufigen Kreislaufversagens das Bett nicht mehr verlassen kann, sitzt er manchmal ganz in sich gekehrt im Bett, vor sich ausgebreitet vergilbte Fotos, Dokumente, Orden und Anerkennungen. Über Monate zieht so sein Leben als Soldat im I. Weltkrieg, später herrschaftlicher Waldheger, auf grausame Weise Vertriebener und zuletzt als Forstaufseher an ihm hinüber. Er und Marie haben trotz elender Schufterei nicht nur die innig geliebte Heimat, sondern auch alle materiellen Werte verloren.

Seine Kräfte schwinden, bald kann er nicht mehr sitzen, die Sprache verlässt ihn. Setze ich mich an sein Bett, strahlen seine Augen. Schließlich holte ihn Gevatter Tod ins ewige Vergessen, lebt er nur noch in den Erinnerungen der Enkel und Urenkel, die sein freundliches Wesen und sein aufmerksames Zuhören noch heute zu schätzen wissen.