Ulrich Jahnke aus Grabow erinnert sich an die dramatische Flucht aus Westpreußen: „Wenn wir auch alles verloren haben, unsere Familie ist zusammengeblieben“
1945 war das ereignisreichste Jahr in meinem Leben. Ich war 13 Jahre alt und musste meine Heimat, meine Spielkameraden und alles, was mir lieb und teuer war, verlassen. Meine Heimat war Westpreußen, ehemals und heute wieder Polen.
Man muss im Leben, so sehe ich es heute, auch viel Glück haben, um so eine Flucht zu überleben. Unser Glück war, dass wir in Herrmansruhe, dem heutigen Kawki, auf einem Bahnhof wohnten. Mein Vater war von Beruf Tischler, verpflichtet zur Aufbauarbeit in Stettin und somit vom Wehrdienst freigestellt. In unserem Hause wohnte ein Lokomotivführer.
In der Nacht des 19. Januar war die Außentemperatur auf minus 30 Grad Celsius gefallen. In dieser Nacht klopfte der Lokführer an unsere Tür. Er sagte, ich höre seine Stimme noch heute: „In einer Stunde fahre ich den letzten Zug nach Danzig. Wenn ihr mitwollt, müsst ihr euch beeilen, denn ich kann nicht warten, die Russen sind durchgebrochen.“
Wir, das waren meine Eltern, mein neun Jahre jüngerer Bruder und meine sieben Jahre ältere Schwester mit ihrer zweijährigen Tochter. Meine Eltern packten, was wir tragen konnten, zusammen. Mit dem Zug ging es nun Richtung Danzig nach Lauenburg (Pommern) zu unseren nächsten Verwandten. Beim Überqueren der Weichsel sah ich zum ersten Mal die unendlich lange Schlange der Trecks. Einige waren schon eingebrochen und die Pferde steckten bis zum Halse im Wasser. Wie froh war ich doch, im Zug zu sitzen. Unsere Verwandten in Lauenburg hörten nachts den sogenannten Feindsender, den Londoner Rundfunk BBC. Das war bei Todesstrafe verboten. Dadurch wussten wir aber, wie weit die Russen schon vorgedrungen waren.
Nach einer Woche in Lauenburg wurde erzählt, ein Passagierschiff läge in Gotenhafen. Es war die „Wilhelm Gustloff“. Das Schiff sollte am 30. Januar auslaufen. Meine Mutter wollte, dass wir mit dem Schiff unsere Flucht fortsetzen. Mein Vater als Eisenbahner wollte lieber mit der Bahn weiterfahren. Ich sehe heute noch das riesige Schiff und die vielen Menschen und Marinesoldaten, die versuchten, Ordnung in das Chaos zu bringen. Irgendjemand unterhielt sich mit meiner Mutter. Er sagte so etwas wie: „Gehen Sie nicht auf das Schiff.“ Es war aber auch nicht möglich, einen Platz zu bekommen. Wir waren zu spät gekommen. Unser Glück! Der Untergang der „Wilhelm Gustloff“ ist hinreichend bekannt.
Mein Vater in Eisenbahnuniform hatte bald einen Zug nach Stettin in Erfahrung gebracht und so setzten wir unsere Flucht, wenn auch in Viehwaggons, fort. Es war eine lausige Kälte. Die Viehwagen konnten ja nicht beheizt werden.
Wir brauchten eine Woche von Danzig bis Stettin. Die Strecke habe ich mit dem Auto beim Besuch meiner alten Heimat in vier bis fünf Stunden zurückgelegt. In dieser Woche hatten wir nichts zu essen. Vor Durst und Hunger haben wir Schnee gegessen. Dazu kam die Kälte. Die russischen Tiefflieger beschossen unseren Zug täglich mehrmals und warfen Brandbomben. Die getöteten Menschen wurden einfach aus dem Zug geworfen. Einmal warf sich mein Vater über mich, weil ich den Kopf zu hoch gehoben hatte. Ich sah nur noch, wie das Geschoss neben uns einschlug. Das war eine Fahrt durch die Hölle.
Später erlebten wir einen Luftangriff der amerikanischen Bomber auf dem Bahnhof in Stettin. Der Luftschutzbunker, den wir bei Alarm aufsuchen mussten, war eine enge Röhre von ca. zwei Metern Durchmesser. An jeder Seite waren Sitzbänke angeordnet. Als das Licht ausging und die Röhre durch abgeworfene Bomben zu wackeln begann, erhob sich ein Geschrei von Frauen und Kindern, ,,dass man denken konnte, das Jüngste Gericht wäre angebrochen“. Das sagte meine Mutter, eine gläubige Christin. Dank der Bunkerröhre haben wir überlebt.
Danach fuhren wir mit dem Zug weiter bis Ludwigslust zu angeheirateten Verwandten meiner Schwester. Hier herrschte tiefer Frieden, noch keine Spur von Luftangriffen. Das kam erst später. Nach langem Suchen und mehreren gescheiterten Versuchen, eine Unterkunft zu bekommen, stellte die Eisenbahn uns eine ehemalige Aufsichtsbaracke der polnischen Zwangsarbeiter zur Verfügung. In Ludwigslust fanden wir eine neue Heimat. Mein Vater bekam bald Arbeit als Tischler bei der Eisenbahn in Ludwigslust.
Ich musste wieder zur Schule, nachdem ich so gut wie ein Jahr ausgesetzt hatte. Meine Mutter sagte immer, wenn wir auch alles verloren haben, aber unsere Familie ist zusammengeblieben.