Siegrid Wolff und Otto Pürschel stammen beide aus Schermeisel in Ostbrandenburg – über die SVZ kamen sie nach 72 Jahren zusammen
Januar 1945. In diesem Monat floh Siegrid Wolff zusammen mit Eltern und Geschwistern aus ihrem Heimatort Schermeisel in Ostbrandenburg. Einige Monate später kehrte die Familie noch einmal zurück, bevor sie 1947 ausgewiesen wurde. Siegrid Wolff hat Schermeisel nie wiedergesehen. Und sie hat in all den Jahrzehnten in der neuen Heimat nie jemanden von zu Hause getroffen, von zu Hause in Schermeisel. Bis zur vergangenen Woche.
Juli 1945. Der 24. war es, das weiß Otto Pürschel noch ganz genau. An diesem Tag wurde er zusammen mit seiner Mutter und den Geschwistern aus seinem Heimatdorf Schermeisel vertrieben. Einen Tag zuvor war der Räumungsbefehl gekommen, Mutter und Kinder mussten sich auf eine wochenlange Odyssee begeben, die erst im Dezember in Weitendorf/Mecklenburg endete. Otto Pürschel lebt heute in Güstrow und hat in den zurückliegenden Jahren alles, was irgendwie mit seinem Heimatdorf zusammenhängt, gesammelt. Dreimal ist er schon wieder dort gewesen. Nur jemanden aus Schermeisel hat er in all den Jahren nicht getroffen. Bis zur vergangenen Woche.
Die Serie „Flucht, Vertreibung, Neuanfang“ in der SVZ hatte Otto Pürschel motiviert, die Geschichte seiner Vertreibung zu erzählen. Als der Bericht erschien, klingelte das Telefon bei Siegrid Wolff in Schwerin. „Mama, du hast doch immer erzählt, ihr kommt aus Schermeisel“, sagte ihre Tochter und: „Hier schreibt ein Mann aus dem gleichen Ort.“ Siegrid Wolff machte sich sofort auf die Suche. Mit Hilfe der Enkelin fand sie die Adresse heraus, Briefe gingen hin und her. In der vergangenen Woche trafen sich Siegrid Wolff und Otto Pürschel in Güstrow – für beide ein bewegender Moment. „Ich warte schon seit um 11“, sagt Otto Pürschel, als Siegrid Wolff vor seiner Haustür wie verabredet um 15 Uhr aus dem Auto steigt. Sie wird hinterher gestehen, dass sie erleichtert ist, ihn genauso aufgeregt zu sehen: „Ich war so nervös. Ich hätte nie gedacht, nach fast 72 Jahren noch mal mit jemandem aus der alten Heimat reden zu können.“ Als alle um den Wohnzimmertisch sitzen, muss sich Otto Pürschel erst fassen. „Schermeisel“, sagt er und schüttelt den Kopf, als könne er es nicht glauben. „Schermeisel“ sagt auch Siegrid Wolff und legt ihm die Hand auf den Arm. Sie schweigen einen Moment. Beide sind über 80 und denken heute noch oft an das Dorf ihrer Kindheit. An das Dorf, wo Winter noch richtige Winter waren, zu Heiligabend und Silvester traditionell Mohnstriezel auf den Tisch kamen und der Wald Blaubeeren in Hülle und Fülle lieferte.
Gekannt haben sich die beiden als Kinder nicht. Otto Pürschel ist drei Jahre älter, er war schon viel allein im Dorf und in den Nachbarorten unterwegs. Siegrid Wolff spielte viel mit der wenig älteren Schwester und kann sich nicht mehr an alle Namen aus dem Dorf erinnern: „Ich war ja erst zehn.“ Doch während beide erzählen, entdecken sie immer mehr Gemeinsamkeiten, durchstreifen zusammen die Landkarte des Ortes – die aus Papier und die der Erinnerungen. „Hier war das Haus vom Gastwirt Schmidt.“ „Ach, das kenne ich, daneben haben meine Großeltern gewohnt.“ „Und dann das Geschäft vom Jordan...“ „Ich weiß, da habe ich immer meine Knallkorken gekauft...“ Später werden sie feststellen, dass Otto Pürschels Schwester Friedel, die vor einigen Jahren gestorben ist, zusammen mit Siegrid Wolff zur Schule ging.
Auch im Schweren ähneln sich die Geschichten. Beide erzählen von einer glücklichen Kindheit, die abrupt endete. Nachdem Siegrid Wolffs Eltern mit den fünf Kindern im Januar 1945 geflohen waren, gelangten sie über mehrere Zwischenstationen nach Potsdam und erlebten dort im April den verheerenden Luftangriff, bei dem große Teile der Innenstadt zerstört wurden. Mit Kriegsende kehrte die Familie dann nach Schermeisel zurück. Doch das Glück der wiedergefundenen Heimat sollte nur wenige Wochen dauern. Als im Juli die Ausweisung kam, wurden die Eltern zwar nicht vertrieben – mussten aber zwei Jahre Zwangsarbeit leisten. 1947 verließen sie Polen und gelangten nach Thüringen und von dort nach Mecklenburg.
Otto Pürschel musste miterleben, wie die Einwohner Schermeisels in Richtung Oder getrieben wurden. Als die Schwester eines Nachbarsjungen starb, konnten die Menschen das tote Mädchen nicht begraben – der Treck musste weiter. „Sie haben sie lediglich mit ein paar Tannenzweigen abgedeckt“, erinnert sich der heute 85-Jährige. Zu Kälte und Angst kam der Hunger. „Wie hat unsere Mutter uns jeden Tag satt bekommen? Richtig muss es wohl heißen, woher hat sie jeden Tag etwas zu essen für uns geholt?“ Das hat Otto Pürschel in seinen Erinnerungen so aufgeschrieben. Siegrid Wolff stellt die gleiche Frage: „Wie haben unsere Eltern das nur geschafft? Sie müssen unglaubliche Angst um uns gehabt haben.“
In Mecklenburg richteten sich Siegrid Wolff und Otto Pürschel im neuen Leben ein, gründeten Familien. Oft blieb während dieser turbulenten Jahre keine Zeit, der verlorenen Heimat nachzutrauern. „Es wurde ja auch während der DDR nicht gern gesehen“, sagt Otto Pürschel. Beide haben aber die Erfahrung gemacht, dass sie im Alter häufiger an die alte Heimat denken müssen – und auch an die schrecklichen Erlebnisse der Flucht. Siegrid Wolff hat ihre Geschichte ebenfalls für die SVZ aufgeschrieben. „Ich habe lange überlegt, ob ich es tun soll“, sagt sie. „Ich habe es für meine Kinder gemacht. Und nachdem ich es getan hatte, hat es sich leichter angefühlt.“ Beide wollen jetzt in Verbindung bleiben. Die unverhoffte Begegnung hat viele Erinnerungen geweckt. Auch wenn das alles, wie sie feststellen, schon mehr als ein Leben lang her ist.