Schweriner Mediziner beleuchtet das Spannungsfeld zwischen Alteingesessenen und Neuhinzugekommenen
Zwischen Alteingesessenen und Neuzugezogenen hat es schon immer Reibungen gegeben: Nach dem Zweiten Weltkrieg, als Vertriebene sich eine neue Heimat suchen mussten, nach der deutschen Wiedervereinigung, als Ost- und Westdeutsche nicht nur Gemeinsamkeiten entdeckten, oder in den letzten Monaten, als hunderttausende Bürgerkriegsflüchtlinge nach Deutschland strömten. Ein Symposium in Schwerin will der mit dieser Entwicklung einhergehenden Verunsicherung auf den Grund gehen. Karin Koslik sprach mit seinem Organisator Dr. Jochen-Friedrich Buhrmann. Er ist Chefarzt der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Schweriner Helios Kliniken.
Auch 26 Jahre nach dem Mauerfall spielt für manchen immer noch eine Rolle, dass jemand „aus dem Westen gekommen“ ist. Warum ist das so?
Buhrmann: Eine einfache Erklärung gibt es dafür nicht. Unterschiede werden und wurden zu jeder Zeit wahrgenommen und münden eben auch in Zuschreibungen und Vorurteilen. Besonders ausgeprägt ist dieses Phänomen bei gesellschaftlichen Umbrüchen wie der deutschen Vereinigung. West- und Ostdeutsche waren sich fremd und mussten sich annähern. Dieser Prozess ist meines Erachtens konstruktiv verlaufen, wenngleich er noch nicht abgeschlossen ist und auch nicht als abgeschlossen betrachtet werden sollte.
Dieses Thema beherrscht die Debatte aber auch nicht mehr in dem Maß wie vor 15 Jahren. „Der kommt ja aus dem Westen“ ist heute eher eine Benennung als eine Kritik.
Sie selbst sind auch kein alteingesessener Schweriner. Fühlen Sie sich noch als Zugezogener?
Ich bin im Januar 2003 mit meiner Familie nach Schwerin gekommen. Da ich hier nicht geboren wurde, werde ich immer Zugezogener sein. Aber nicht zuletzt dank meiner Arbeit bin ich angekommen.
Zugezogen sind auch Menschen, die im Zweiten Weltkrieg oder unmittelbar danach aus ihrer Heimat fliehen mussten. Sind die inzwischen angekommen?
Wir behandeln in unserer Klinik ja einen Querschnitt der Bevölkerung, und natürlich gibt es auch Flüchtlingsschicksale, auch Menschen, die damals vor den Russen geflohen sind. Sie alle sind hier angekommen, aber mit ihrer eigenen Geschichte, und diese eigene Lebensgeschichte bleibt immer aktuell. Man kann sie nicht umschreiben.
Aber wie kommt es dann, dass ausgerechnet diese Weltkriegsflüchtlinge, aber zum Beispiel auch Russlanddeutsche, den heutigen Bürgerkriegsflüchtlingen extrem kritisch gegenüberstehen?
Es sind eben nicht bestimmte Bevölkerungsgruppen, die den Bürgerkriegsflüchtlingen kritisch gegenüber stehen. Derartige Zuschreibungen sind leider häufig anzutreffen und auch gefährlich. Es geht um unterschiedlich motivierte Ängste verschiedener Bevölkerungsgruppen. Sie sollten sehr differenziert erfasst und verstanden werden. Wie sich in den vergangenen Monaten herausgestellt hat, stammt ein großer Teil der Kritiker aus der wirtschaftlich abgesicherten Mittelschicht, deren Ängste sind schwer nachzuvollziehen. Anders verhält es sich mit Bevölkerungsgruppen, die nicht selbstverständlich Zugang zu den Ressourcen unserer Gesellschaft haben, also dem Erwerb von Wissen, Bildung und Ausbildung, gefolgt von Erwerbstätigkeit mit sicherem Einkommen und daraus resultierend Anerkennung. Menschen, die es nicht gut haben oder schlechte Zeiten hinter sich haben, fürchten jetzt, dass ihnen die Flüchtlinge das schwierige Auskommen oder den erlangten Wohlstand schmälern könnten. Diese Ängste sind nicht rational und die geäußerten Befürchtungen werden nicht eintreten. Doch fühlen sie sich mit ihren Ängsten allein gelassen und das ist das große Problem.
Wie kann man diesen Menschen ihre Angst nehmen?
Durch Aufklären und durch Erklären. Wichtig ist, dass diejenigen, die Ängste haben, sich angenommen und verstanden fühlen. Auf sie sollten wir zugehen und sie einbeziehen. Das ist in unserer Demokratie auf der einen Seite eine Aufgabe der gewählten politischen Vertreter, auf der anderen Seite aber auch eine Aufgabe, der sich jeder stellen sollte. Wie wir die aktuellen Entwicklungen verstehen und mit ihnen konstruktiv umgehen können, damit wollen wir uns in unserem Symposium beschäftigen.
Bei der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern haben sich die Ängste vieler Menschen darin manifestiert, dass auf die AfD 20,8 Prozent der abgegebenen Stimmen entfielen.Dieses Ergebnis lässt sich durchaus als Ausdruck von Ängsten verstehen. Die Wahlforscher haben ja ermittelt, dass zirka 75 Prozent derjenigen, die AfD gewählt haben, bislang Wähler der etablierten Parteien waren. In Interviews äußern sich diese Wähler entsprechend enttäuscht und unverstanden. Solche Situationen sind im therapeutischen Alltag häufig, für uns gilt dann die Devise, den Menschen dort abzuholen, wo er gerade steht. Denn wir alle sind auf wertschätzende Rückmeldungen durch ein wertgeschätztes Gegenüber angewiesen. Es ist zu hoffen – und vieles spricht aktuell dafür –, dass diese Botschaft verstanden wurde. Doch wird es an dieser Nahtstelle noch lange Zeit etwas zu tun geben.
In der aktuellen Flüchtlingsdebatte äußern sich auch viele Menschen ablehnend, die noch nie Kontakt zu Fremden hatten. Woher kommt das?
Wir alle sind in unserem persönlichen Bereich auf Stetigkeit und Gewohnheiten angewiesen, die Sicherheit im Alltag vermitteln. Viele, aber eben nicht die Mehrheit, fühlen sie in Frage gestellt, wenn dann tatsächlich etwas Fremdes oder Neues vor der Tür steht. Latente Ängste, die wir alle haben, äußern sich leider auch in Form von Ablehnung.
Aber so viele Fremde stehen doch hier gar nicht vor der Tür…
Mecklenburg-Vorpommern hat nach dem Königsteiner Schlüssel bezogen auf seine Einwohnerzahl ein Kontingent Flüchtlinge zugewiesen bekommen, wie jedes andere Bundesland auch. Der Eindruck, es seien nicht so viele, ist möglicherweise Ausdruck der Tatsache, dass die Integration hier relativ reibungslos und unaufgeregt gelingt. Und das hat auch mit der gleichbleibend hohen Zahl ehrenamtlicher Helfer zu tun.
Info
Das Symposium „Zwischen Alteingesessenen und Neuhinzugekommenen“ findet am Montag, dem 10. Oktober, im Ludwig-Bölkow-Haus der IHK zu Schwerin statt. Der Eintritt zu der um 18 Uhr beginnenden Veranstaltung ist frei, aus organisatorischen Gründen wird aber um vorherige Anmeldung unter Tel.: 0385 520 3391 oder per Mail: jochen.buhrmann@helios-kliniken.de gebeten.