Von Warzen heilenden Leichenhänden und Kronen auf Särgen: Kunsthistorikerin Dr. Anja Kretschmer nimmt die Friedhofskultur in MV genau unter die Lupe
Auf dem Neuen Friedhof in Rostock treibt ein Geist sein Unwesen. Herr Kesterke wandert nächtlich von Grab zu Grab und schaut nach dem Rechten. 1912 starb er beim Decken des Daches für die Trauerhalle. „Er war der Erste, der auf dem Friedhof begraben wurde“, erzählt Kunsthistorikerin Dr. Anja Kretschmer. „Man munkelt, dass er noch heute dort weilt. Sein Grab gibt es aber schon lange nicht mehr.“
Anja Kretschmer hatte schon immer ein Faible für Friedhöfe. „Für mich waren sie immer mehr als Orte der Bestattung. Sie sind für mich Orte der Begegnung, Orte der Entspannung.“ Ihre Dissertation schrieb sie über Mausoleen und Grabkapellen.
In dieser Zeit wurde sie zur Friedhofsflüsterin. Weil sie während des Forschungsprozesses auf viele „witzige, skurrile Dinge“ stieß, bot sie fortan Führungen über Friedhöfe an, erzählte den Teilnehmern vom Aberglauben vergangener Generationen. „Unsere Vorfahren haben in allem eine Bedeutung gesehen“, sagt sie. „Zum Beispiel glaubte man, dass Leichenhände Warzen heilen oder dass jemand, der bei der Geburt einen Zahn hatte, ein Untoter war, der wieder töten müsse“, beschreibt Kretschmer.
Dass sie in den vergangenen fünf Jahren immer mehr zur Markenbotschafterin der Friedhöfe in MV avanciert ist, beruhe auf einer persönlichen Angst. „Vielleicht gibt es irgendwann keine Friedhöfe mehr. Der Trend geht zu individuellen Grabstellen, zu anonymen Bestattungen. Friedhöfe sind immer weniger ausgelastet.“
Auf dem Neuen Friedhof in Rostock sei 20 Prozent der Fläche nicht belegt. Zurückzuführen sei dies auf ein sich veränderndes Familienleben: „Die Familien leben nicht mehr an einem Fleck. Weil sie ihren Angehörigen mit der Grabpflege nicht zur Last fallen wollen, entscheiden sich immer mehr für alternative Bestattungen. Das ist aber falsche Rücksichtnahme. Die Angehörigen sind die, die bleiben, und die brauchen einen Ort zum Trauern.“
Anja Kretschmer findet auf jeder Grabstätte kleine Besonderheiten. Im 19. Jahrhundert wurden die Friedhöfe an den Stadtrand verlegt. „Rostock hatte 70 Mausoleen. Das war deutschlandweit einzigartig.“ Der wirtschaftliche Aufschwung veranlasste das normale Bürgertum, sich der Grabkultur der Reichen anzupassen. „Man wollte auch nach seinem Tod zeigen, was man hatte“, erklärt die Kunsthistorikerin, die auch gerne mal als Schwarze Witwe unterwegs ist. Auch die Kindergrabfelder in Rostock und Boizenburg/Elbe seien sehenswert. „Als die Friedhöfe angelegt worden waren, wurden sie nach Klassen strukturiert“, weiß Kretschmer. „So durften die Armen und Selbstmörder nicht in der Nähe der Reichen liegen.“
Damit auf den Friedhöfen alles seine Richtigkeit hatte, wurden Totengräber angestellt. Doch die beobachteten hin und wieder unerklärliche Prozesse. „Damals wusste man noch nicht, dass der Verwesungsprozess dazu führen kann, dass sich Leichen noch einmal umdrehen. Auch postmortale Geburten waren für die Totengräber ein Anzeichen, dass der Tote bei seiner Bestattung noch gelebt haben muss“, erläutert Anja Kretschmer. „Und wenn sie in den Gräbern Geräusche hörten, musste dort ein Untoter liegen. Sind Familienangehörige des Begrabenen krank geworden oder Bewohner der Ortschaft, aus der er kam, unterstrich das die Vermutung.“
Während ihrer Führungen bemerkt Kretschmer, dass der Aberglaube zuweilen noch zugegen ist: „Gerade die Älteren erzählen mir spannende Geschichten. Wenn sonntags jemand stirbt, werden in kürzester Zeit drei weitere gehen, und eine stehen gebliebene Uhr kündigt den Tod an. Schwangere sollten keine Friedhöfe besuchen und etwas vom Friedhof mitzunehmen, bringt Unglück.“
Anja Kretschmer hat die Bräuche studiert, Bücher gewälzt, die Bedeutung von Fotografien erforscht. Dabei fand sie heraus, dass Kinder eine Totenkrone auf das Grab gelegt bekamen – als ein Zeichen der Himmelshochzeit. „Eine Hochzeit war genauso wichtig wie die Taufe, und zu dieser trugen Frauen üblicherweise eine Krone. Da den Kindern wegen ihres frühen Todes eine Hochzeit verwehrt blieb, bekamen sie eine Totenkrone“, erklärt sie.
Im Laufe der Jahrhunderte hätte sich das Prozedere zeremonieller Verabschiedungen stark verändert. „Durch die Professionalisierung des Todes“, sagt Kretschmer. „Früher ist man zuhause gestorben, die Angehörigen haben den Toten gewaschen und Totenwache abgehalten. Heute übernimmt das der Bestatter“, erläutert die Kunsthistorikerin. „Vor der Beerdigung wurde der Sarg geöffnet und Mitgiften wie Lieblingsbücher hineingelegt. Das hilft beim Abschiednehmen.“
Zu Zeiten des Biedermeiers seien die Angehörigen noch einen Schritt weitergegangen. „Weil das Haar der Verstorben nicht vergänglich war, hat man daraus Wandbilder oder Schmuck angefertigt. Der Liebste blieb so immer präsent.“
Eine weitere Möglichkeit, Erinnerungen zu bewahren, kam in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf: Direkt nach dem Tod ging es für den Verstorbenen zum Fotografen. „Meist wurde die ganze Familie abgelichtet – für das letzte gemeinsame Bild. Die Toten wurden lebendig geschminkt. Um 1940 wurde diese Tradition aus hygienischen Gründen aber wieder abgeschafft“, weiß die Friedhofsflüsterin.
Was die Wiederverwertung von Leichenteilen anbelangt, seien vorangegangene Generationen sehr kreativ gewesen. So galt das Körperfett als Faltenauffüller, das zudem auch noch Wirkung gegen Rheuma und Gicht bewies. „Im Mittelalter war das Verhökern von Menschenteilen ein gutes Geschäft für den Scharfrichter. Gerade Blut war heiß begehrt, da es als Allheilmittel eingesetzt wurde.“
Info
Die Friedhofstouren werden noch bis Mitte Dezember angeboten,zum Beispiel am 10. November um 19 Uhr in Rostock und Dienstag, 2. November, um 18 Uhrin Wismar. Kontakt: 0151/56 33 35 49, info@anja-kretschmer.de


