900 000 Seeminen, hunderttausende Tonnen Kampfmittel am Grund von Ost- und Nordsee: Wie gefährlich sind sie?
Vor drei Jahren kam der Krieg an den Strand von Rerik – zumindest seine Überreste. Nachdem Sand aus der Ostsee aufgespült worden war, um den Küstenschutz zu sichern, fanden Spaziergänger Munition. Anderthalb Tonnen waren es am Ende, die mit großem Aufwand beräumt werden mussten. Später wurde auch am Strand von Boltenhagen Munition gefunden – ebenfalls nach einer Aufspülung. „Wir wissen nicht ganz genau, woher sie kam“, sagt Robert Mollitor, Leiter des Munitionsbergungsdienstes Mecklenburg-Vorpommern (MBD): „Aber wir vermuten, dass sie mit dem Sand vom Meeresgrund angesaugt wurde, der zum Aufspülen gebraucht wurde.“
Das Thema „Munition auf dem Meeresgrund“ wird derzeit in einem zweijährigen Projekt intensiv untersucht. Gestern und heute tauschen sich etwa 50 Forscher am Institut für Ostseeforschung Warnemünde (IOW) über erste Ergebnisse aus. Gemeinsam mit den Kieler Kollegen vom Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung und der Christian-Albrechts-Universität versuchen sie herauszufinden, wie sich Sprengstoff auf dem Meeresboden verhält, ob er eine Gefahr werden kann, wenn die metallenen Geschosshülsen im Laufe der Jahrzehnte durchrosten. „Und wir wollen wissen, wie es sich auf die Umwelt auswirkt, wenn diese Munition geborgen wird“, sagt Prof. Jens Greinert vom Geomar-Institut, der das Projekt leitet: „Dabei geht es uns um konventionelle, nicht um chemische Munition.“ Dafür arbeiten Experten verschiedener Fachrichtungen zusammen.
Angaben über die genaue Position von versenkter Munition finden sich in den Kriegsarchiven. Allerdings waren damals Ortungsverfahren noch relativ ungenau. „Wenn die Politik anerkennen würde, dass es ein derartiges Problem gibt, müsste sie handeln“, meint Greinert. „Aber wer ist zuständig? Der Bund? Oder die Länder? Oder die Alliierten, die die Bomben nach dem Krieg im Meer entsorgen ließen? Niemand will so was bezahlen.“ Allerdings sei auch erst in den letzten Jahrzehnten die technische Entwicklung nach und nach so weit gekommen, dass man Munition am Meeresgrund zuverlässig aufspüren kann. Fachleute schätzen, dass in der Ostsee 300 000 Tonnen Munition, zum Teil noch mit Zündern, liegen. Manche Bomben enthalten bis zu 700 Kilogramm Sprengstoff. Besonders betroffen ist die Küste von Schleswig-Holstein, aber auch vor MV gibt es solche Orte, besonders nahe der Halbinsel Wustrow, vor Fischland-Darß-Zingst, Rügen und Usedom. Der Munitionsbergungsdienst des Landes führt ein Kampfmittelkataster, in dem alle Funde dokumentiert werden. Der Sprengstoff stammt aus dem Zweiten Weltkrieg, als insbesondere die Briten massenhaft ungenutzte Munition in der Ostsee verklappten, die sie von den Deutschen erbeutet hatten. Amerikanisches und französisches Militär fanden andere Wege der Entsorgung. „Wie die Sowjetarmee das Problem löste, ist derzeit nicht klärbar“, sagte der ehemalige Marineoffizier Uwe Wichert auf der Tagung. Aber auch die Aktivitäten der NVA und der Sowjetarmee hinterließen größere Mengen auf dem Meeresboden.
Bomben am Meeresgrund – die Kampfstoffe sind längst zur Umweltgefahr geworden. Ganz reell sei die Verunreinigung der Nahrungskette durch TNT, meint Projektleiter Greinert: „Der Sprengstoff und auch seine Abbauprodukte können das Wasser vergiften und die Lebensbedingungen der Tiere beeinflussen. Oder sie können in Muscheln geraten, die Muscheln werden von Fischen gefressen, die letztendlich auf unseren Tellern landen.“ Das aktuelle Forschungsprojekt, das noch bis Anfang 2019 läuft, soll zeigen, wie groß diese Gefahr tatsächlich ist. Dafür stellen die Wissenschaftler zunächst mit Echoloten fest, wo genau Sprengkörper liegen. In zahlreichen Tauchgängen begutachten die Forscher die Fundstücke, Chemiker analysieren mit hochempfindlichen Messgeräten Proben von Meeresboden und Wasser. Dann bringen Toxikologen der Uni Kiel Muscheln in der Ostsee aus, die das Wasser filtern. „Wir messen, wie viel TNT sie in wie großer Entfernung zur Bombe aufnehmen. Allerdings können wir noch nicht einordnen, ob die Kontamination für Tiere oder Menschen gefährlich ist. Das werden unsere weiteren Forschungen zeigen.“
Wichtig ist auch zu erfahren, wie Strömung und Wind die Ausbreitung der Schadstoffe beeinflussen. Ozeanografen aus Warnemünde messen diese Strömungen und errechnen daraus Modelle, wohin das ausgetretene TNT transportiert wird. „Möglicherweise müssen wir dann warnen, dass bestimmte Lagerstellen überwacht werden sollten. Wir wollen wissen: Wie gefährlich ist der Sprengstoff, wenn er sich in den kommenden Jahrzehnten langsam auflöst? Und wie lange dauert das genau?“
Ein parallel laufendes Projekt erforscht die Schadstoff-Belastung an Plattfischen vor Kiel. Schon jetzt zeigt sich, dass etwa ein Viertel der getesteten Tiere krankhafte Veränderungen wie etwa Lebertumore aufweisen – in unbelasteten Gebieten sind es weniger als fünf Prozent. Ob die Erkrankungen durch ausgetretenes TNT hervorgerufen wurden, sollen weitere Tests zeigen.
„Ob von Munition Gefahr ausgeht oder nicht, ist im Wasser wie an Land gleich“, sagt Robert Mollitor, Leiter des Munitionsbergungsdienstes MV. „Das hat mit dem Sprengstoff und den Zündsystemen zu tun. Die können von allein losgehen – bei geringstem äußeren Anlass oder wenn mechanische Teile versagen. Allerdings haben wir im Meer den Vorteil, dass ein Kontakt mit Menschen nicht so leicht möglich ist. Und selbst bei einer Explosion dämpft das Wasser die Wirkung.“ Nach der Entdeckung werde Munition in den allermeisten Fällen nicht gesprengt, sondern geborgen und entsorgt. „Denn wenn wir sprengen, müssen wir sicher sein, dass die gesamte Munition zerstört wird. Und das kann sehr aufwendig sein.“
Großes Interesse an der Aufklärung über Munition am Meeresboden haben Firmen, die mit Baumaßnahmen in den Meeresboden eingreifen, also etwa bei Offshore-Windkraftanlagen oder bei der Ostsee-Pipeline Nordstream 2. „Da geht es um den Arbeitsschutz während des Baus und natürlich die Sicherheit später während des Betriebs. Kampfmittelräumung auf See ist immens teuer, aber die Betreiber wollen möglichst sicher sein, dass da unten kein Sprengstoff liegt.“ Nach den Erfahrungen der Strandaufspülungen in Rerik und Boltenhagen wird nun ein neues Verfahren genutzt: In einem Spezialkorb, dessen Maschen nur zwölf Millimeter groß sind, bleibt alles gefährliche Material hängen – wie zuletzt 2015 vor Hiddensee und 2016 am Strand von Ahrenshoop.


