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Schwerin Filmkunstfest MV: Zehn Filme – zehn Meinungen

Von Redaktion svz.de | 02.05.2017, 11:55 Uhr

Redakteure unserer Zeitung haben die Produktionen des Spielfilmwettbewerbes beim heute beginnenden 27. Filmkunstfest MV vorab gesehen

Das 27. Filmkunstfest Mecklenburg-Vorpommern wird heute Abend in Schwerin mit der Literaturverfilmung „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ von Matti Geschonneck eröffnet. Bis Sonntag werden beim größten Publikumsfestival in Ostdeutschland 150 Filme aus 17 Ländern in vier Wettbewerben und acht Themenreihen gezeigt. Darunter sind 20 Ur- und deutsche Erstaufführungen. Preise in einer Gesamthöhe von 46 500 Euro werden vergeben. Im Zentrum steht der engagierte, deutschsprachige Film. Gastland ist Dänemark, das mit einer eigenen Filmreihe gewürdigt wird.

SVZ-Publikumspreis: Den Lieblingsfilm gewinnen lassen 
Besonders beliebt bei den Filmemachern ist der Publikumspreis. Er wird auch in diesem Jahr wieder von unserer Zeitung gestiftet.  Hier wählen   die Zuschauer ihren Lieblingsfilm. Die Macher können so aus erster Hand erfahren, was beim Publikum ankommt und was nicht.  Das Verfahren ist ganz einfach: Vor der Vorstellung werden Stimmkarten verteilt. Jeder Zuschauer kann Punkte vergeben – von 1 (schlecht) bis 5 (hervorragend), dafür muss auf der Karte eine der Markierungen eingerissen werden.  Anschließend wird die   Karte dann in die Sammelbox vor dem Kino geworfen. So können  Zuschauer  noch  mit dem ersten, unverfälschten Eindruck über ihren  Lieblingsfilm abstimmen. Dotiert ist der Publikumspreis mit 2500 Euro. Im letzten Jahr  ging der Preis an das berührende Drama „24 Wochen“ von Anne Zohra Berrached.

Eine Ausstellung, die bereits am Nachmittag eröffnet wird, beleuchtet das Phänomen der dänischen Olsenbanden-Filme, die besonders in Ostdeutschland große Erfolge feierten. Von 1968 bis 1998 wurden 14 Streifen produziert. Einer der letzten noch lebenden Hauptdarsteller, Jes Holtsø, wird in Schwerin erwartet. Der 60-jährige Blues-Musiker hatte in mehreren Olsenbanden-Filmen Børge gespielt, den halbwüchsigen Sohn von Olsenbanden-Mitglied Kjeld. Holtsø will mit seiner Band die Eröffnungsgala des Filmkunstfestes musikalisch begleiten.

Zu den Filmvorführungen, Diskussionen, Ausstellungen, Konzerten und Lesungen in Schwerin werden vom 2. bis 7. Mai rund 18 000 Besucher erwartet.

Filme unter die Lupe genommen

Die Produktionen aus dem Bereich Spielfilm haben sich unsere Redakteure bereits vorab angesehen und für Sie rezensiert:

Home is Here
Zuhause sein Die junge Hannah (Anna Aström) steigt eines Tages in die Villa des pedantischen Finanzberaters Max (Stipe Erceg) ein und verändert dort Kleinigkeiten an der Einrichtung. Immer wieder erkundet sie heimlich das Haus und hinterlässt Zeichen. Max  lässt sich auf ein Spiel mit ihr ein. Zwischen den beiden entwickelt sich ein  Dialog, der sich nur über die Veränderungen im Haus ausdrückt. Im Laufe des Spiels erkennen beide, dass sie ihr persönliches Zuhause nicht an einem bestimmten Ort oder in einer Beziehung finden, sondern nur bei sich selbst – wenn sie ihren Gefühlen, ihrer Kreativität und ihrer Sehnsucht Raum geben. „Home is Here“ von Tereza Kotyk erzählt eine außergewöhnliche Geschichte über künstlerischen Ausdruck und persönliche Freiheit.  Ein  leiser Film mit starken Hauptdarstellern, die den Zuschauer mitnehmen in ein Haus der Möglichkeiten. Angela Hoffmann

 

In Zeiten abnehmenden Lichts
Es geht abwärts Herzlich willkommen zum Geburtstag des Altkommunisten Wilhelm Powileit. Der starrsinnige Alte feiert im Oktober 1989 seinen 90.  „Bringen Sie das Gemüse auf den Friedhof“, knurrt er die Gäste   mit Blumensträußen an. Seinem Hausarzt raunt er ins Ohr: Stalin  sei falsch behandelt worden.  Die Botschaft für den Parteifunktionär: „Es geht abwärts.“  Die Geburtstagsfeier Powileits, wunderbar gespielt von Bruno Ganz, ist der Fixpunkt in der Verfilmung   des Erfolgs- und Epochenromans „In Zeiten abnehmenden Lichts“  von Eugen Ruge. Regisseur Matti   Geschonnek gelingt es, die Mehrgenerationen-Geschichte der Familie um  den alten Genossen Powileit in einen einzigen Tag zu packen. Manchmal allerdings mit etwas zu langatmig und zu detailliert inszenierten Bildern.  Udo Roll

 

Die Liebhaberin
Nackter Wahnsinn Lust auf  nackte Körper, Tantrakurse, argentinische Sonne  und Gruppensex?  „Die Liebhaberin“ des österreichischen Regisseurs Lukas Valenta Rinner hat all das zu bieten. Vor allem aber Sprachlosigkeit, inszenierte Langsamkeit, Bilder, die verstören und  bizarre Parallelwelten. Zwischen diesen taumelt  Belén (extrem wandelbar: Iride Mockert) hin und her. Das fleißige, stille  Dienstmädchen ergattert einen Job in einer hermetisch abgeriegelten Reichensiedlung von Buenos Aires. Doch hinterm   Elektrozaun  auf dem Nachbargelände  pulsiert ein Nudistencamp. Und die moderne Haussklavin erliegt der Verlockung; bis die Abgeschotteten  die Freizügigen  vertreiben wollen. Der Konflikt entlädt sich explosionsartig, blutig, brutal. Doch zugleich komisch. Wetten, dass  nach dem Abspann  des Films die Fragezeichen ins Hirn klettern? Ingo Gräber

 

Die Tochter
Mehr als Eifersucht Wenn sich die getrennten Eltern wieder versöhnen, ist das für die meisten Kinder ein Anlass zur Freude. Doch nicht für die siebenjährige Luca (Helena Zengel), die sich bestens damit abgefunden hatte, den Vater zwar nur in regelmäßigen Abständen, dafür aber ganz für sich alleine zu haben. Dass dieser bei einem gemeinsamen Aufenthalt in Griechenland wieder Gefühle für seine Ex-Frau entwickelt, missfällt dem Mädchen ganz gewaltig. Sie schimpft, sie weint, sie flüchtet. „Wen hast du lieber, mich oder Mama?“, stellt sie dem Vater ein Ultimatum und weiß genau, dass Papa seiner Prinzessin nichts abschlagen kann. Aus  kindlicher Eifersucht wird zunehmende Abneigung, die in böswilliger Manipulation gipfelt. Und immer wieder pocht das Herz des Vaters – schneller, lauter, ein Martinshorn ertönt. Wie viel kann die Liebe zum eigenen Kind ertragen? Mascha Schilinskis Familiendrama „Die Tochter“ überzeugt durch hervorragende Hauptdarsteller, die  den Zuschauer auf eine emotionale Achterbahnfahrt entführen, bei  der stets die Frage mitschwingt: „Wie hätte ich mich verhalten?“ Jana Wendig

 

Casting
Bis ans dunkle Herz Man weiß es, Filmen ist nicht nur hehre  Kunst. Aber wie viel  Verlogenheit, wie viele Machtspielchen dabei tatsächlich an die Front geschickt werden,  zeigt dieser grandiose Film von Nicolas Wackerbarth auf eine  selten gesehene Weise. Der Titel sagt es: Eine Schauspielerin wird gesucht – wenige Tage vor Beginn der Dreharbeiten. Der Sender möchte einen Star, die Regisseurin würde gern dieses noch mal sehen und sieht jenes  gerade   nicht und stellt überhaupt die Sinnfrage. Zickenkrieg,  Verrat, Idealismus und Eitelkeiten prallen aufeinander.  Dokumentarisch anmutende, hoch energetische Bilder von der ersten Minute an. Und mittendrin Gerwin, die tapfere „Anspielwurst“, deren Tragik Andreas Lust  ein berührendes Gesicht gibt. In improvisierten Szenen reisen überragende Schauspielerinnen bis ans dunkle Herz ihres Berufes. Holger Kankel

 

Wann endlich küsst Du mich
Andere  Umstände Wann ist der richtige Zeitpunkt, um ein Kind zu bekommen? Sicher nicht, wenn man 16 ist, noch zur Schule geht und von einer Karriere als Schauspielerin träumt. Viola (Luise von Finckh) will das Baby trotzdem. Doris (Olivia Grigolli), Violas Mutter, hat ihre zwei Töchter lange allein großgezogen. Jetzt muss sie feststellen, dass Mascha (Marie Rosa Tietjen), die ältere, ihr fremd geworden ist. Und Viola, das Nesthäkchen, begehrt immer öfter auf, zieht schließlich sogar aus. Da erfährt Doris, dass sie noch einmal ein Kind erwartet. Julia Ziesche stellt eine ungewöhnliche Familienkonstellation in den Mittelpunkt ihres Films „Wann endlich küsst Du mich“. Die gleichen anderen Umstände lassen die Frauen die Probleme der jeweils anderen plötzlich aus einem neuem Blickwinkel betrachten. Ein Film, der Lust auf Familie macht – trotzdem. Karin Koslik

 

Back for Good
Ganz unten Angie will es weit bringen – bis ins „Dschungelcamp“. Sie ist sich für fast nichts zu schade. Ein Zwischenstopp in der Entzugsklinik – auch aus PR-Gründen – ändert nichts an ihren Plänen. Doch ohne Geld und abserviert vom Manager und all den anderen „Kokserfreunden“ muss sie erst mal wieder zur überforderten Mutter und der kleinen Schwester ziehen. Welten prallen aufeinander, nie ganz verheilte Wunden werden aufgerissen… Man muss nicht ins „Dschungelcamp“ gehen, um mit den Niederungen des Lebens konfrontiert zu werden. Dass aber eine verzweifelte Lage, ein Fehler auch die Chance für einen Neuanfang sein kann, zeigt Mia Spenglers berührender Film.  Preisverdächtig ist Kim Riedle als Angie, deren tussige Fassade nach und nach bröckelt –  dahinter zeigt sich dem Zuschauer eine sensible, einsame Frau mit einem großen Herzen. Silvia Müller

 

Winterjagd
Ein Judenmädchen Die 25-jährige Lena (Carolyn Genskow) verschafft sich  Zutritt zu dem einsamen Haus des  90-jährigen Unternehmers Anselm Rossberg (Michael Degen). Dessen Tochter (Maria Degen) leugnet die Anwesenheit ihres Vaters, der  bereits  von Aktivisten verfolgt wird, weil er   möglicherweise in Auschwitz  Verbrechen beging, die ihm ein Gericht  aber   nicht  nachweisen konnte.  Rossberg  sieht sich als Opfer.  War er nur zur falschen Zeit am falschen Ort, wie  er behauptet? Als Lena den grandios spielenden Michael Degen  mit einer Pistole  bedroht, entwickelt sich eine rasante Story. Bis zuletzt ahnt niemand, was  die junge Frau mit dem  Mann verbindet.  „Letztlich bis du auch nur ein Judenmädchen“, wird der  alte Nazi ihr am Ende entgegenschleudern. Ein  hoch spannender Psychothriller aus der ZDF-Reihe „Stunde des Bösen“. Absolut sehenswert. Max-Stefan Koslik

 

Rakete Perelman
Nur die Freiheit „Wir scheißen auf den ganzen Kram“ –  sie wollen unabhängig sein, sich frei fühlen, frei  von   Materialismus und  gesellschaftlichen Zwängen. Mitten im brandenburgischen Nirgendwo suchen die Mitglieder der Künstlerkommune Rakete Perelman nach dem vermeintlich perfekten Dasein. Und während sie im Drogenrausch an Steinen riechen, zu elektronischen Beats ums Lagerfeuer tanzen und sich in den Planungen einer Theaterinszenierung zunehmend in ihrem eigenen Idealismus verlieren, werden sie von  den Widersprüchlichkeiten des Lebens überrannt.  Denn was tun, wenn die erkämpfte Freiheit plötzlich in Gefahr ist,   weil  die örtlichen Behörden nach Geld lechzen? Oliver Alaluukas fokussiert sich in seinem Streifen auf eine der größten  Fragen unserer Zeit: Wie wollen wir leben? Philosophisch! Metaphorisch!  Überraschungsmoment garantiert! Josefine Rosse

 

Die beste aller Welten
Familiendrama Helga (Verena Altenberger) ist drogenabhängig. Das verbirgt sie allerdings vor ihrem siebenjährigen Sohn Adrian (Jeremy Miliker). Er ist ein guter Schüler und mag auch   ihren Lebensgefährten Günter (Lukas Miko). Nur manchmal ist sie etwas müde oder überschäumend. Manchmal verliert sie auch den Überblick. Wenn es Adrian zu viel wird, dann flüchtet er in eine Fantasiewelt. Helga weiß um ihre Fehler und schützt ihren Sohn wie eine Löwenmutter vor dieser Erkenntnis – und auch vor sich selbst. Der  Film des 25-jährigen   Adrian Goiginger nähert sich diesem kritischen Thema mit der Leichtigkeit und Naivität eines Siebenjährigen. „Die beste aller Welten“ fühlt sich sehr authentisch an – denn er ist autobiografisch – lässt aber  eine neue Perspektive  vermissen. Die schönsten Momente liefert der Film, wenn Mutter Helga mal nicht mit sich selbst zu kämpfen hat. Viviane Offenwanger