
Immer mehr fettleibige Patienten bereiten Kliniken Schwierigkeiten Zahl extrem adipöser Menschen hat sich von 1999 bis 2013 mehr als verdoppelt
Der extremste Fall war der einer 1,68 Meter großen Frau, die 280 kg auf die Waage brachte. „Schon bei einem 200 kg schweren Patienten sind vier Pflegekräfte nötig, um ihn umzubetten“, deutet Prof. Bernd Frank, der Ärztliche Direktor der Helios Klinik Leezen nur eines der Probleme an, die mit ihrer Betreuung verbunden waren. Ein weiteres: Normale Krankenhaus-Pflegebetten haben eine Tragkraft von 140 kg. Für massiv übergewichtige Patienten muss die Akutklinik für Frührehabilitation mit interdisziplinärem Rehabilitationzentrum unweit des Schweriner Sees Spezialbetten ausleihen – pro Tag und Bett kostet das 120 Euro. Bei 70 Tagen, die Frühreha-Patienten durchschnittlich in Leezen verbringen, kommen so 8400 Euro zusammen. Mindestens – denn bei stark übergewichtigen Patienten ist die Komplikationsrate und damit auch die Wahrscheinlichkeit einer überdurchschnittlich langen Verweildauer besonders hoch.
Doch damit nicht genug: Schon ein leeres Spezialbett wiegt eine Tonne, weiß Prof. Frank. Liegt der Patient darin und kommen dann noch mehrere Pfleger dazu, die es von A nach B bewegen sollen, ist die maximale Tragkraft eines normalen Fahrstuhls längst überschritten. „Und genau genommen ist auch die Statik der Klinik überhaupt nicht auf solche Gewichte eingestellt“, ergänzt der Ärztliche Direktor.
Dabei sind massiv übergewichtige Patienten mit einem Bodymaßindex (BMI) von mehr als 40 längst nicht mehr nur Einzelfälle, betont Klinikgeschäftsführer Daniel Dellmann. Ständig werde mindestens ein solches Schwergewicht auf einer der Stationen versorgt, in der Regel seien es mehrere gleichzeitig. Viele von ihnen würden gezielt von anderen Kliniken nach Leezen geschickt, weil man sie dort nicht versorgen kann. Für den Transport an den Schweriner See müssten sie in Schwerlast-Krankenwagen verladen werden. „Das sind richtige Busse“, so Dellmann.
Das gewichtige Problem ist nicht nur eins der Leezener Klinik. Der DAK Gesundheit zufolge hat sich der Anteil der Patienten mit extremer Adipositas, also einem BMI über 40, in Deutschland im Zeitraum von 1999 bis 2013 mehr als verdoppelt. Studien belegen, dass Adipositas als Auslöser für mehr als 60 Begleiterkrankungen gilt.
Mecklenburg-Vorpommern hat im bundesweiten Vergleich die dicksten Menschen – und das fängt schon bei den Kindern an. Seit Jahren werden etwa zwölf Prozent der Erstklässler als übergewichtig eingestuft, fünf Prozent sogar als fettleibig. In Klasse acht gelten bereits 22 Prozent der Schüler im Nordosten als dick, elf Prozent als adipös, so viel wie in keinem anderen Bundesland. Da verwundert es nicht, dass mit knapp 60 Prozent mehr als die Hälfte der Erwachsenen im Land übergewichtig sind, jeder Fünfte ist sogar fettleibig, das heißt, er hat einen Body-Mass-Index von mehr als 30. Mecklenburg-Vorpommern hat damit den höchsten Anteil stark Übergewichtiger an der Bevölkerung bundesweit. Und weil Diabetes, Bluthochdruck, Erkrankungen des Skelettsystems und Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu den häufigsten Folgeerkrankungen von Fettleibigkeit zählen, nimmt auch hier der Nordosten im Bundesvergleich Spitzenplätze ein.
In Leezen wurden in jedem der letzten drei Jahre durchschnittlich 40 ausgeprägt adipöse Patienten behandelt. Prof. Frank zufolge sind das drei Prozent der Gesamtpatienten. Schon bald, so fürchtet er, könne dieser Anteil bei fünf Prozent oder noch höher liegen. „Die Zahl hat schon jetzt viel stärker zugenommen, als noch vor wenigen Jahren prognostiziert wurde“, weiß auch der Klinikgeschäftsführer.
„Wir haben deshalb ein Projekt zur Frührehabilitation massiv übergewichtiger Patienten entwickelt, das auch diversen Partnern vorgestellt – aber darauf angesprungen ist keiner“, bedauert Prof. Frank. Vorgesehen war, eine Spezialeinheit mit vier Betten und besonderem Personaleinsatz aufzubauen. Weil aber niemand bereit war, diese zu finanzieren, würden die massiv übergewichtigen Patienten jetzt im ganzen Haus verteilt – vor allem, um die zusätzliche Belastung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in erträglichen Grenzen zu halten. „Ich habe als Arbeitgeber ihnen gegenüber ja eine Fürsorgepflicht“, betont Prof. Frank. Und das heiße eben auch, sie vor körperlicher Überlastung zu schützen. Bei jedem schwergewichtigen Patienten werde deshalb mit der Pflegeleitung abgestimmt, auf welcher Station er betreut werden kann. „Nur irgendwo ein Bett frei zu haben, reicht nicht. Wir brauchen auch das nötige Personal – und zwar für diese Patienten etwa drei- bis viermal so viel wie bei Normalgewichtigen“, erläutert der Ärztliche Direktor.
Betriebliches Gesundheitsmanagement sei im Haus hoch angesiedelt – aber es gebe da Grenzen, wo die Alternative wäre, Patienten unversorgt zu lassen. Wer nach Leezen kommt, ist ohnehin schon schwer krank: Es sind Schlaganfallpatienten, am offenen Herzen Operierte, Unfallopfer mit schweren neurologischen Schädigungen, chronisch Kranke mit einem komplizierten Behandlungsverlauf, viele von ihnen künstlich beatmet, mit schweren offenen Wunden, einige liegen im Koma. In der Spezialklinik sollen sie wieder dazu in die Lage versetzt werden, eigenständig zu leben - idealerweise im Anschluss an den Klinikaufenthalt wieder im eigenen Haushalt.
Das kostet Zeit und im wahrsten Sinne des Wortes die Klinikmitarbeiter auch viel Kraft. „Aus Sicht der Krankenkassen aber ist all das mit dem Pflegesatz abgegolten“, ärgert sich Prof. Frank. Sie würden darauf verweisen, dass Kliniken sich über eine Mischkalkulation finanzierten, dass also Mehreinnahmen aus dem einen Bereich Defizite in einem anderen ausgleichen würden. „Das funktioniert auch, solange ausgeprägt adipöse Patienten Einzelfälle sind – aber über dieses Stadium sind wir lange hinaus“, so der Mediziner.
Wie die AOK Nordost die Klinikleitung abblitzen lässt, demonstriert die Kasse auch mit ihrer Antwort auf unsere Nachfrage: Schon seit 2003 würden Krankenhausleistungen grundsätzlich mit Fallpauschalen (DRG) finanziert, heißt es in den Ausführungen der Kasse. „Die Klinik Leezen gehört jedoch zu den Krankenhäusern, die aufgrund ihrer Besonderheit der behandelten Erkrankungen nicht über DRG-Fallpauschalen vergütet werden“, so AOK-Sprecher Markus Juhls. Das Haus werde als einzige „Besondere Einrichtung“ in Mecklenburg-Vorpommern mit individuell verhandelten Entgelten vergütet. Jährlich würden die Krankenkassen mit der Klinik ein Gesamtbudget und die Anzahl der zu vergütenden Belegungstage aushandeln – auf Grundlage der gesetzlichen Rahmenbedingungen. „Die Entscheidung, ob eine Klinik aus dem DRG-System ausgenommen werden soll, trifft vor allem die Klinik allein“, so Juhls. „Würde die Klinik Leezen den Wunsch haben, nach dem DRG-Katalog abzurechnen, würden die Kassen auch entsprechend verhandeln und vergüten. Die Entscheidung oder das Umdenken liegt also bei der Klinik selbst und nicht bei den Krankenkassen.“
Die Klinikleitung wollte sich zu diesem „Angebot“ nicht äußern. Ihr gewichtiges Problem besteht also fort.
Hintergrund: Von Aufzug bis Sarg |
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Dass immer mehr Menschen immer mehr Gewicht auf die Waage bringen, beschäftigt in erster Linie, aber bei weitem nicht nur Mediziner. So sind Geräte zur medizinischen Diagnostik nicht immer auf die Leibesfülle der zu untersuchenden Patienten eingerichtet: Für ältere deutsche Magnetresonanztomografen gilt eine Gewichtsobergrenze von 150 kg. Bei der Computertomografie sind es 180 kg, bei neueren Gerä t en aus amerikanischer Herstellung 227 kg. Und bei der Angiographie, also der Darstellung von Gefäßen, ist bei 200 kg Schluss. Grenzen setzten zudem die Röhrendurchmesser von 60 Zentimeter im MRT und 65 Zentimeter im CT. Für bestimmte Untersuchungen, zum Beispiel im Schulterbereich, kann auf ein offenes Gerät ausgewichen werden. Doch auch in anderen Lebensbereichen bereitet Übergewicht Probleme: Betten und Sitzmöbel sind nicht in jedem Fall auf das Gewicht ihrer Nutzer ausgelegt. Die maximale Tragkraft und die maximal zulässige Personenzahl in Aufzügen stimmen immer seltener mit der Realität überein. Während Fluggäste immer dicker werden, werden Sitze im Flugzeug immer schmaler. Und Bestatter klagen darüber, dass Standard-Särge für viele Verstorbene nicht mehr ausreichen. |