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Landesfilmarchiv in Wismar Die Geschichte zersetzt sich langsam

Von JORO | 27.10.2016, 12:00 Uhr

Zum Unesco-Welttag zur Erhaltung des audiovisuellen Erbes sucht das Landesfilmarchiv Mecklenburg-Vorpommern weiter nach verborgenen Schätzen

Sie halten Händchen, lachen, hüpfen verliebt über die Wiese. Er zieht sie zu sich heran, schaut ihr tief in die Augen. Dann der Kuss. Ihre Wangen färben sich rot. Verlegen schaut sie zu Boden. Karl-Heinz Steinbruch spult verwundert vor: „Normalerweise hat der Film eine Tonspur.“ Der Archivar dreht an den Reglern. Kaum wahrnehmbar und stark verzerrt, erklingen die Stimmen der Protagonisten. „Hier werden klassische Alltagssituationen dargestellt“, erklärt Steinbruch. „Wir haben allerhand Filme verzeichnet, die zum Verstehen der Sozialgeschichte des Landes sehr interessant sind.“ Filme seien ein wichtiges Kulturgut, an das jedes Jahr der Unesco-Welttag zur Erhaltung des audiovisuellen Erbes erinnert. Am 27. Oktober 1980 verabschiedeten die Vereinten Nationen die „Empfehlung zum Schutz und zur Erhaltung bewegter Bilder“. Um das Bewahren, Sammeln und Sichern von Fotos, Tonaufnahmen oder Filmen kümmern sich seither Archivare wie Karl-Heinz Steinbruch. „Früher war man sich der Bedeutung des Materials für spätere Generationen nicht bewusst“, sagt er. „Natürlich wissen wir nicht, welche Fragen künftige Forscher an unsere Zeit stellen, wir müssen die Archive aber so pflegen, dass sie beantwortet werden können.“

Das Landesfilmarchiv Mecklenburg-Vorpommern besteht seit 20 Jahren. 1996 wurde es als Pilotprojekt gegründet. „Es hat ja keiner geahnt, was für Schätze in unserem Land schlummern“, erinnert sich Steinbruch. An seinem Computer sucht er nach einem seiner Lieblinge, in Auftrag gegeben durch die Lehrmittelstelle des Verkehrswesens der DDR. „Ende des Zweiten Weltkrieges wurde der Rügendamm, der die Insel mit dem Festland verband, völlig zerstört. 1947 wurde die Brücke notdürftig repariert. Der Film zeigt Aufnahmen von den Umbaumaßnahmen 1961“. Veröffentlicht wurde der Streifen unter dem Titel „Wieder mit Volldampf über den Rügendamm“.

Eines der größten Probleme hinter der Erschließung des Materials sei die Technik. Gäbe es durch die Anbindung des Filmarchivs an staatliche Institutionen wie dem Landeshauptarchiv keine Option auf finanzielle Förderungen durch das Land, sehe es schlecht aus. „Beispielgebend für die Filmarchivarbeit ist Sachsen“, sagt Steinbruch. In MV gäbe es noch Luft nach oben. „Anologe Beta können wir womöglich bald nicht mehr ansehen. Es gibt keine Ersatzteile mehr.“ Rund 3000 Filme ruhen in dem Archiv in Wismar, darunter auch einige Raritäten aus den 20er- und 30er-Jahren. „Es gibt kaum Sequenzen von mecklenburgischen Kleinstädten von vor 1945“, sagt der Archivar. „Eine Kamera zu besitzen, war den Wohlsituierten vorbehalten und die suchten in der Regel das pulsierende Leben in der Großstadt.“ Eine bedeutende Schenkung sei ein Acht-Millimeter-Film aus den 30er-Jahren, der das Leben in Sternberg zeigt, aufgenommen durch einen ehemaligen Apotheker.

Nicht immer seien alle Filme spannend, dafür gleiche das Öffnen jeder Filmdose dem Öffnen eines Überraschungseis. „Man weiß nie, was drin ist. Wir haben aber in erster Linie Interesse an den Filmen, die politisch oder gesellschaftlich relevant sind“, erläutert Steinbruch. Dazu würden die 1. Mai-Umzüge von 1933 in Schwerin zählen, ebenso wie Aufnahmen vom Katastrophenwinter 1979. Zuletzt holte Karl-Heinz Steinbruch 51 Filmrollen aus dem Stralsunder Stadtarchiv. Beim Verzeichnen des Materials stellte er fest, dass sich darunter Nitro-Rollen befanden, ein schnell entflammbares Material, für das gesonderte Lagerungsbedingungen bestehen. „Nach dem Sprengstoffgesetz dürfen die Filme nur bei Minusgraden gelagert werden. Das Bundesarchiv hat dafür eine Erlaubnis“, verrät Steinbruch. Von 1890 bis in die 1960 -er wurden die meisten Filme auf Nitrocellulose gedreht. „Auf den ersten Blick ist das Trägermaterial nicht erkennbar. Die Filme können sich durch Schläge oder zu hohe Temperaturen entzünden“, warnt der Experte.

Viele Aufnahmen, die bei ihm ankommen, seien unvollständig. Manchmal fehle ihnen Vor- und Abspann, bei anderen hat sich die Tonspur abgetrennt. Ein Großteil des Materials sei von Amateuren gedreht worden, aber auch Auftragsarbeiten liegen im Landesarchiv. Eine der umfangreichsten Sammlungen kam aus dem Schifffahrtsmuseum in Rostock. „Zu den 550 Exemplaren gehörten auch Werbefilme. Die Deutsche Seereederei oder das Fischkombinat suchten immer Personal.“

Nach 1990 sei jede Menge Filmmaterial vernichtet worden. „Firmen gingen pleite, Privatpersonen wurden arbeitslos, alles mussten sich neu orientieren. Niemand fühlte sich für die Filme verantwortlich“, erklärt Steinbruch. Er selbst habe 1992 bei der Entrümpelung einer Garage, die ursprünglich von der FDJ-Bezirksleitung Neubrandenburg angemietet wurde, Filmrollen übersehen. Der Archivar glaubt dennoch, dass vielerorts noch Aufnahmen schlummern. „Und diese müssen wir so schnell wie möglich digitalisieren.“ Nur durch Übertragen der Filme auf ein anderes Trägermedium könne das Kulturgut überleben. „Durch chemische Prozesse zersetzen sich die Filme früher oder später“, sagt Steinbruch. Die Lebenszeit sei abhängig von den Lagerungsbedingungen. „Bei einer schlechten Ausgangssituation kann das Material schon nach 20 oder 30 Jahren zerstört sein.“ DVDs hielten nach Auffassung des Archivars unbeschadet etwa zehn Jahre. „Nichts ist von Dauer. Es gibt keine standardisierten Formate, keine einheitlichen Digitalisierungsmethoden. Dabei wäre dies für die Kompatibilität dringend notwendig“, prangert er an.

Kontakt: Landesfilmarchiv Mecklenburg-

Vorpommern, Bürgermeister-Haupt-Straße 51-53 in Wismar, Telefon: 03841/ 618 220