Faktoren der Wahlentscheidung: Der Bundestrend, analysiert von den Politikwissenschaftlern Martin Koschkar und Christian Nestler
Wahlen sind für große Teile der Bevölkerung das zentrale Element der Partizipation in der Demokratie. Die wissenschaftliche Betrachtung zeigt verschiedene Faktoren, die einen Einfluss auf das Wahlverhalten haben. Für Landtagswahlen ist das neben Fragen von regionalem Parteienwettbewerb, Personen, Themen und Koalitionsmöglichkeiten auch die Bundesebene. Bei den Märzwahlen 2016 war ein klassischer Faktor deutlich sichtbar: Der Bundestrend.
Grundsätzlich handelt es sich dabei um das Phänomen einer Überlagerung der Landtagswahlen durch Bundesthemen. Jüngst zeigte sich dieser Effekt im Umgang mit der Herausforderung des Themas von Geflüchteten und Zuwanderung. Die Haltung von bundeskanzlerin Angela Merkel und die Politik der Bundesregierung polarisierten und tangierten den Wahlausgang in den Ländern ohne de facto zur Wahl zu stehen. Die AfD war der Nutznießer dieses Trends. Es entstand der Charakter von „Bundesstimmungswahlen“.
Der Einfluss des Bundestrends ist in den ostdeutschen Ländern aufgrund geringer Parteienverankerung und einer höheren Neigung zur Wechselwahl stärker. In MV zeigt sich dies regelmäßig im Abschneiden von Bündnis 90/Die Grünen und der FDP. So etwa bei den Urnengängen 2006 und 2011: Im ersten Fall konnten die Liberalen mit „Rückenwind“ ihr Ergebnis verdoppeln und erreichten 9,6 Prozent, fünf Jahre später bei „Gegenwind“ scheiterten sie mit 2,8 Prozent klar.
Die Bündnisgrünen profitieren 2011 von der Debatte um Atompolitik im Zuge der Reaktorkatastrophe von Fukushima. Mit 8,7 Prozent gelang ein überdurchschnittliches Ergebnis und der erstmalige Einzug ins Schweriner Schloss. Für beide Parteien wird 2016 der Bundestrend neben der Bewertung der Arbeit der Landesverbände durch den Wähler von entscheidender Bedeutung sein.
Die Volksparteien CDU und SPD werden im Spiegel der Arbeit der Großen Koalition im Bund wahrgenommen. Sollte die Polarisierung aufgrund der Frage der Geflüchteten bis in den Herbst überdauern, wird die Herausstellung eines eigenen Profils für die Spitzenkandidaten, Ministerpräsident Erwin Sellering (SPD) und Innenminister Lorenz Caffier (CDU), unabhängig von der Bundespolitik schwierig.
Eine mögliche „Überlagerung“ sollte dennoch nicht überhöht werden. Dass Wähler deutlich zwischen Ebenen der Wahlen unterscheiden können, zeigte sich an der SPD nach 2008. Kommunal-, Europa- und Bundestagswahl 2009 bedeuteten für die Sozialdemokratie im Land einen Tiefpunkt. 2011 zur Landtagswahl erreichte die SPD eine große Zustimmung und eines der besten Ergebnisse seit 1990. Ein starkes Landesprofil kann den Einfluss des Bundestrends verringern.
Dies gilt im Besonderen für die Linke als „ostdeutsche Volkspartei“. Der geringere Zuspruch im Bundesdurchschnitt und die Dauerrolle als Oppositionspartei im Bundestag können ihr kaum Schub bei Landtagswahlen geben. Dieses „Defizit“ bedeutet jedoch auch für 2016 einen Freiraum für die Linke von Spitzenkandidaten Helmut Holter.
Für die AfD wäre eine Konservierung der Stimmungslage der Märzwahlen eine große Unterstützung. Der Vorteil von Mobilisierung durch Polarisierung wäre gegeben. Verliert die Partei das Thema auf Bundesebene als Hebel zur Profilierung über Parolen wie „Merkel muss weg“, wird es auf den inhaltlichen Gehalt des Landesprogrammes, dessen Umsetzbarkeit und die Außenwirkung der Landtagskandidaten ankommen. 23 Wochen vor dem Wahltermin ist die Entwicklung offen.