Eine in Eberswalde wohnende Ukrainerin verbringt ihre Zeit damit, luxuriöse Puppenkleider zu nähen
Schließ’ die Augen, dann siehst du sie tanzen auf einem prunkvollen Ball oder heiraten im blütenweißen Hochzeitskleid. Mit großer Einsamkeit fängt alles an. Vor 13 Jahren wandert Vera Lemp aus der Ukraine nach Deutschland aus. Damals ist sie 69 Jahre alt. Ein hohes Alter für einen Neubeginn. In Eberswalde (Barnim), einer völlig fremden Stadt, mit einer Sprache, die sie nicht versteht. Die Scheu, sich zu blamieren, ist groß. Das Heimweh übermächtig.
Kaum auszudenken, was geschehen wäre, wenn Tante Maria ihr nicht die unterarmgroße Porzellanpuppe geschenkt hätte. Ein reizendes Geschöpf mit seidigem Haar, schwarzer Samtmütze und weiß gepunktetem Kleid. Vera Lemp sagt auf Russisch: „Als wir hierher kamen, wusste ich nicht, was ich machen soll.“ Enkelin Elena, auf Deutsch: „Das Nähen, die Puppen geben Oma Halt.“
Das namenlose Püppchen mit dem kindlichen Gesicht bringt das Glück zurück ins Heim. Die Lebenslust, die Leichtigkeit, das Lachen. Denn die alte Dame mit den weißblonden Haaren ist eine, die eigentlich ständig lacht, ja jugendlich kichert, wenn sie und ihr 77-jähriger Ehemann Andrey Lemp herumalbern.
In Vera Lemps Puppenkönigreich ist die Namenlose die erste gewesen. Bis heute kamen 49 Prinzessinnen und zwei Prinzen hinzu. Viele Puppen sind so groß wie kleine Kinder. Sie tragen die Kreationen ihrer Haus- und Hofschneiderin. Jedes Outfit ist ein Unikat. Die Kleider sind aus Samt, Seide und Satin mit Spitze, Rüschen und Pailletten verziert. Sie sind himmelblau, apfelgrün und roséfarben. Mit Hüten, Schleiern und Diademen ausgestattet, stehen die Puppen auf vier Ebenen aufgereiht und wetteifern um Aufmerksamkeit. Wer ist die Schönste in der kleinen Wohnung?
Seine Frau natürlich, findet Andrey Lemp. Sie ist seine Prinzessin. Seit mehr als 50 Jahren schon. Beim Fotoshooting wirken die zwei verliebt wie am ersten Tag. Sie thront vor ihrem Hofstaat aus Puppen auf einem Stuhl. Er hockt ihr zu Füßen auf einem Schemel. In Slowjansk im Osten der Ukraine haben sie sich kennengelernt bei der Arbeit auf der Baustelle. Als 1965 ein Kohlekraftwerk für das Steinkohle- und Industriegebiet Donbass entsteht. „Die Vera hat mir einfach gefallen“, sagt Andrey Lemp. Deshalb kauft er zwei Karten fürs Sommerkino. Es zeigt „Blumen im Staub“, einen indischen Film aus Bollywood. Dazu Händchenhalten unterm Sternenhimmel. Vielleicht der erste Kuss.
Als Vera Lemp mit 16 Jahren die Schule beendet hatte, konnte sie nicht alles werden, was sie wollte. Der Zweite Weltkrieg war vorbei, die Ukraine zerstört. Sie hätte den Wunsch haben können, Modedesignerin zu werden. Hatte sie aber nicht. „Ich wollte Kleider nähen lernen“, sagt sie. Doch die Kinderkleiderfabrik lehnte ihre Bewerbung als Näherin ab. Küchenhilfe in einer Raketenfabrik wird sie stattdessen. Dazu waren vier Kinder zu versorgen, die Ziege, das Geflügel, der kleine Gemüsegarten.
Weil sie für sich und ihre Nachfahren dort keine Zukunft sahen, haben Vera, Andrey, Natalia und Elena Lemp die krisengeplagte Region zur Jahrtausendwende verlassen. Andrey Lemps Vorfahren sind Wolgadeutsche, die Familienmitglieder Spätaussiedler.
Vera Lemp hat schon wieder eine neue Idee. Ihrer Lieblingspuppe Elvira mit dem bronzenen Teint und den schwarzen Haaren würde ein sonnengelbes Volantkleid gut stehen. Das Bild hat sie im Kopf. Skizzen macht sie keine. Prinzgemahl Andrey hilft wo er kann, bastelt Standfüße, repariert die Nähmaschine, macht sich schmal, damit mehr Puppen in die kleine Wohnung passen. Und Kleider in den Schlafzimmerschrank.
Da hängt auch Vera Lemps eigenes. Das hat sie sich für die Goldene Hochzeit 2015 genäht. Da haben ihr Mann und sie sich ein zweites Mal das Jawort gegeben. In der Plattenbausiedlung Brandenburgisches Viertel. Weil es egal ist, wo man sich befindet, wenn es in einem selbst glitzert und funkelt und sprüht.