Berlin ufert aus. Weil die Stadt aus allen Nähten platzt, weichen viele ins Umland aus. Dort wird es voller, aus Dörfern werden Schlafstädte.
Lars Köhler würde es wieder tun. „Wir haben das Grüne und das Gemächliche vor Ort, aber wird sind schnell in der Stadt“, sagt der 37-Jährige. Als Student lebte der Oranienburger in Berlin, genoss die kurzen Wege. Doch als die Kinder kamen, zogen Köhler und seine Frau zurück, bauten ein Haus. Wie der Lehrer haben Zehntausende in den vergangenen Jahren Berlin den Rücken gekehrt, ließen Lärm, Enge und steigende Mieten hinter sich. Doch dafür muss man inzwischen immer weiter rausziehen. Am direkten Stadtrand wird es immer städtischer.
Glienicke/Nordbahn – mit Dorfteich, gepflegten Straßen, alten Bäumen – grenzt direkt an Berlin-Reinickendorf. Längst gehören neben Einfamilienhäusern dicht gesetzte Reihenhäuser und Wohnblocks zum Bild, die Grundstückspreise steigen. Seit dem Mauerfall hat sich Glienickes Einwohnerzahl fast verdreifacht, liegt bei 12 600.
Die Straßen in die Hauptstadt sind morgens voll, Anwohner murren. „Die hiesigen Bürger sind voll auf Berlin ausgerichtet“, sagt Bürgermeister Hans Günther Oberlack (FDP). Sie arbeiteten in Berlin, läsen Berliner Zeitungen und gingen in Berlin aus. „Hier rufen Bürger an und sagen: Bei uns ist die Straße schmutzig, wann kommt die BSR?“ Doch für die Brandenburger Gemeinde ist die Berliner Stadtreinigung (BSR) nicht zuständig.
Glienickes Grundschule zählt mit 700 Schülern zu den größten in Brandenburg. Oberlack meint: „Das Familiäre von kleinen Gemeinden ist weg, wir haben im Grunde Berliner Verhältnisse.“
Etwa 1000 Neubürger will die Gemeinde noch aufnehmen, dann stößt die Infrastruktur an Grenzen. Man wolle nicht noch dichter bauen, sagt Oberlack. „Der Charakter des Orts soll sich nicht völlig ändern.“ Wer dann aus Berlin rausziehe, müsse weiter draußen suchen. Längst werben Vermieter in Fürstenwalde und Brandenburg/Havel um Berliner. Der Verband Berlin-Brandenburger Wohnungsunternehmen (BBU) textete: „Hip, Hipster, Brandenburg!“,
38 Prozent der Brandenburger leben im „Speckgürtel“, mehr als 400 000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte pendeln täglich über die Grenze – auch von Berlin zu Arbeitsplätzen in Brandenburg, denn die meisten märkischen Industriebetriebe liegen im Berliner Umland, worauf das Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung hinweist. Es wird erwartet, dass 2030 etwa 42 Prozent der Brandenburger im sogenannten Speckgürtel leben werden.
Der Mauerfall hatte vielen Berlinern die Chance auf ein eigenes Haus im Grünen gebracht. Der Anteil der Erstbezieher in Eigenheimen ist in Brandenburg besonders am West-Berliner Stadtrand hoch. In Falkensee leben mehr als 44 000 Menschen – doppelt so viele wie 1990.
Doch als Bundestag und Bundesregierung 1999 an die Spree zogen, blieb der Berlin-Boom zunächst aus. Über Jahre stagnierte die Einwohnerzahl der Hauptstadt. Zehntausende Wohnungen standen leer. Erst seit das vorbei ist, legt der Speckgürtel wieder stärker zu.
Die Statistiker Hans Jürgen Volkerding und Jürgen Paffhausen haben zwei Gründe ausgemacht: Erstens wächst Berlin seit 2005 immer stärker und Wohnungen werden Mangelware. Zweitens machen niedrige Zinsen für mehr Menschen das Bauen möglich. Auch in den nächsten Jahren werden mehr Berliner zu Brandenburgern werden als umgekehrt, sagen die Fachleute in der amtlichen Bevölkerungsprognose voraus.
Das bedeutet: Im Umland wird es voller. Schon wachsen Pkw-Dichte und besiedelte Flächen in vielen Stadtrandgemeinden, wie amtliche Statistiken zeigen. Mit einem Wohnungsleerstand von gut zwei Prozent bei den BBU-Mitgliedern sind im direkten Umland fast Berliner Verhältnisse erreicht. „Wir sind ein Putzerfisch am Rand eines Wals“, sagt der Glienicker Bürgermeister Oberlack. „Und die Tauchtiefe des Wals bestimmen nicht wir.“
Der Ex-Berliner Lars Köhler fährt privat noch zwei- bis dreimal im Monat von Oranienburg ins Berliner Zentrum, ins Theater oder zur Hertha. Zur Arbeit geht es nach Hennigsdorf. In Köhlers Nachbarschaft gibt es noch mehr frühere Berliner, sie schätzen die schnelle Anbindung an die alte Heimat. Andere Bekannte sehen sich nach Baugrundstücken um, notfalls auch ohne S-Bahnhof in der Nähe, wie Köhler sagt. „Viele suchen nun weiter draußen.“